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Bis zum Hals

Bis zum Hals

Titel: Bis zum Hals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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Äußerung das Letzte ist, was du tust, fügte ein kleiner Teil meines Bewusstseins hinzu, bevor es zur Gänze den Dienst quittierte.
     
    Als ich erwachte, war sie immer noch da. Das war mir in etwa dem gleichen Maße peinlich, wie, tja, lieb.
    »Wir müssen los«, sagte ich und richtete mich auf. Der Himmel im Westen glomm im letzten Licht des Tages, zeigte ein verschmiertes Orange, wie Eigelb und Ketchup auf einem leergekratzten Cafeteria-Teller. Erst als ich meine Jeans und Socken über der Balkontür baumeln sah, wurde mir bewusst, dass ich nur noch T-Shirt und Unterhose trug. Das brachte das Gefühl von Peinlichkeit zurück, aber auch das von Erleichterung.
    »Wir müssen los«, wiederholte ich blödsinnigerweise. Ich hätte im Moment überhaupt nicht sagen können, wohin.
    Anoushka stand an meinem 2-Platten-Herd und kippte etwas aus einem Topf in einen Becher, den sie mir rüberbrachte.
    »Versuch das«, sagte sie ernst.
    »Anoushka, ich möchte, dass du begreifst, dass ich keine Schuld habe an –«
    »Trink«, unterbrach sie mich streng. »Aber langsam.«
    Es war Brühe, lauwarm. Ich nahm einen Schluck. Er fuhr in meinen Magen wie ein Windstoß in die Glut. Ich keuchte, als die Flammen loderten. Nahm gleich noch einen. Immer schon hart im Nehmen gewesen, ich. Ganzer Kerl. Keiner von denen, die man mit ’ner Tasse Hühnerbrühe über den Jordan schicken könnte.
    Die Katze hockte am Fußende des Bettes, betrachtete mich mit klinischem Interesse und sah dann zu Anoushka, als ob sie sich für sie und gegen mich entschieden und deshalb nicht unbedingt etwas dagegen hätte, wenn ich alsbald den Löffel abgäbe.
    Kein Fisch mehr für dich, Miststück, dachte ich grimmig und zutzelte tapfer weiter an dem lauen, fettigen Sud herum, während Anoushka meine Jeans ausschüttelte und andersrum wieder aufhängte, um die Trocknung zu beschleunigen. Frisch gewaschen wie die Socken, und über der Heizung hingen auch noch eine Unterhose und ein T-Shirt mit TABU-Absinth-Aufdruck. Die Leute schenken mir dauernd Sachen mit Alkoholwerbung drauf, weiß auch nicht, warum.
    Der Becher war leer, und sein Inhalt in mir machte, zumindest fürs Erste, keine Anstalten, wieder hochzukommen. Wundervoll.
    »Wir müssen reden«, sagte ich zu Anoushka, und sie nickte. »Doch zuerst sollte ich duschen.«
    »Ja«, fand sie mit großem Ernst. »Das ist eine gute Idee.«
     
    Die Klinge war alt und brauchte viel Druck, weshalb mir eine ganze Anzahl von blutdurchtränkten Klopapierfetzen auf Hals, Kinn und Wangen klebten, als ich aus dem Bad trat, doch ich war immerhin rasiert, geduscht, umgezogen und damit so präsentabel, wie es sich im Moment einrichten ließ.
    Anoushka stand reglos an der Brüstung, versunken in das, was mein Balkon so an Aussicht zu bieten hatte, und das hieß hauptsächlich die Fassade des Hochhauses gegenüber, ein nahezu identisches Spiegelbild unseres schichtförmig aufeinandergestapelten Ghettos. Sie wirkte gedankenverloren, unempfänglich für die akustische Mixtur aus Gegröle und Gejaule, Geträller und Gezänk, aus durch die Straßen heulenden Martinshörnern und um ihre Gleisbögen kreischenden Straßenbahnen. Dutzende von Grills taten ihr Bestes, die Luft in der Stadt weiter mit Schadstoffen anzureichern, und der aufsteigende Mief machte, dass man alles ringsum durch einen Rauchschleier wahrnahm, wie jemand auf dem Scheiterhaufen.
    Anoushka stand reglos, unerreichbar, bemerkte nicht, wie ich hinter sie trat. Ich streckte eine tröstende Hand nach ihrer Schulter aus, und sie fuhr herum und machte einen raschen Schritt zur Seite.
    »Nicht!«, warnte sie, und ich zog die Hand wieder ein und kam mir linkisch vor, plump, taktlos, übergriffig.
    »Möchtest du etwas essen?«, fragte ich, instinktgetrieben. Sie war so schmal, so zerbrechlich. »Ich könnte eine Pizza kommen lassen.«
    Sie dachte nach und nickte dann.
    »Aber nichts mit … Fleisch«, bat sie sich aus. Ich zauberte eine abgegriffene Speisekarte von ihrem Platz neben dem Telefon herbei, und sie entschied sich für eine schlichte Margherita, obwohl ich ihr ein halbes Dutzend andere, etwas opulenter belegte Varianten schmackhaft zu machen versuchte.
    Wir räumten den Tisch und zwei Stühle raus auf den Balkon, und schon eine Viertelstunde später saß ich ihr gegenüber, nuckelte an einem frischen Becher lauer Brühe und sah ihr dabei zu, wie sie die Pizza in winzige Happen schnitt und konzentriert, fast schon methodisch zu sich nahm. Wie etwas, das man

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