Bis zum letzten Atemzug
der Lüftung bläst. Wie ein Stromschlag fährt es durch mich hindurch. Vielleicht haben wir hier den Durchbruch.
»Dorothy, wer ist der Junge? Hat er Zugang zu einer Waffe?«
Sie schüttelt kläglich den Kopf. »Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass es schwer für ihn wäre, eine zu kriegen. In jedem Haus in dieser Gegend liegt mindestens eine Flinte im Waffenschrank.«
»Dorothy, sag mir seinen Namen«, fordere ich mit scharfer Stimme.
Sie schaut mich verzweifelt an, Tränen rinnen über ihre Wangen. »Ich fürchte, es könnte mein Sohn sein. Ich habe heute Morgen einen Anruf von der Schule erhalten. Blake ist nicht zum Unterricht erschienen. Und ich kann ihn nirgendwo finden.«
HOLLY
Ich weiß, dass es elf Uhr ist, weil um diese Zeit meine Mutter jeden Tag zum zweiten Mal an meiner Krankenzimmertür auftaucht. Sie kommt immer gleich morgens um acht, geht um zehn Uhr auf einen Kaffee in die Krankenhauscafeteria und kommt pünktlich um elf Uhr zurück. Sie klopft an, steckt ihren Kopf durch den Türspalt und ruft mit fröhlicher Stimme: »Ist das ein guter Zeitpunkt für einen Besuch?« In der ersten Woche habe ich mir gar nicht erst die Mühe gemacht, zu antworten. Jede Bewegung, selbst das Bilden von Worten, hat mich vollkommen erschöpft. Meine Mutter ist trotzdem immer hereingekommen und hat sich einen Stuhl an mein Bett gezogen. Sie hat Zeitschriften und ihr Strickzeug mitgebracht und die nächsten drei Stunden einfach nur dagesessen. Sie hat kein Wort gesagt, außer wenn ich mein gutes Auge geöffnet habe. Und wenn sie dann sprach, legte sich die vertraute Stimme meiner Kindheit wie ein gestärktes, von der Sonne gewärmtes und frisch von der Leine kommendes Laken über mich.
»Weißt du noch«, fängt meine Mutter heute an, »als du einmal allein zu Hause warst und irgendetwas die Kühe erschreckt hat und sie aus der Weide ausgebrochen sind?« Ich versuche, nicht zu lächeln; die Muskeln in meinem Gesicht schreien unter der kleinsten Bewegung auf. Ich spüre die Entzündung unter meiner Haut blubbern und frage mich, welches neue Antibiotikum sie einsetzen werden, um diesen erneuten Rückschlag zu bekämpfen.
Bis zu diesem Augenblick habe ich diesen schwülen Augusttag vollkommen vergessen, an dem die Kühe ausgebrochen waren. Meine Eltern befanden sich gemeinsam mit meinen Brüdern Wayne, Pete, Jeff und Todd auf einem Tagesausflug nach Linden Falls, wo sie eine Landwirtschaftsauktion besuchten. Ich hatte keine Lust gehabt, meinen Tag damit zu verbringen, mir alte, rostige Geräte anzusehen, also hatte ich vorgegeben, krank zu sein, und war zu Hause geblieben.
Ich hatte den Luxus genossen, noch lange nach ihrer Abfahrt im Bett liegen zu bleiben, da hörte ich auf einmal einen Radau unter meinem Fenster. Ich war mit dem Muhen der Rinder durchaus vertraut, doch das hier klang viel zu nah. Ich schoss von meinem Bett hoch, befreite mich aus den Laken und schob meinen weißen Leinenvorhang zur Seite, der schwer in der feuchten Luft hing. Unter mir trotteten zwei Dutzend oder mehr Schwarzbunte gemütlich durch den Garten. Ich zog meine Stallstiefel über und versuchte die nächsten vier Stunden, die Kühe zurück auf die Weide zu treiben. Ich rief und schob und drückte und flehte sie an, in ihren Pferch zurückzukehren. Unsere sechs Monate alte blau getüpfelte Australian Shepherd Roo versuchte, mir zu helfen, aber nach dreißig Minuten sackte sie erschöpft unter dem Holzapfelbaum in unserem Vorgarten zusammen.
»Oh.« Meine Mutter lacht bei der Erinnerung an den Tag. »Als wir wieder nach Hause kamen, hattest du einen Sonnenbrand, blaue Flecken und Muskelkater, aber alle Tiere waren wieder da, wo sie hingehörten.« Die strickenden Hände meiner Mutter halten einen Moment inne. »Ich erinnere mich, dass dein Vater jedem, den er kannte, erzählt hat, wie verantwortungsvoll du an diesem Tag gewesen bist.,Ein echtes Cowgirl’, hat er gesagt. Er war so stolz auf dich.«
Ich erinnere mich an jeden einzelnen schmerzenden Muskel, an die Wärme, die von meiner sonnenverbrannten Haut aufgestiegen war, das Gefühl, wie die Eiscreme, die mein Vater extra für mich mit dem Auto aus Broken Branch geholt hatte, kalt und sacht meine Speiseröhre hinunterglitt. Ich spüre die Hand meiner Mutter an meiner unverletzten Wange. »Was möchtest du heute gerne zu Mittag essen, Holly?«, fragt Mom. »Eiscreme klingt doch ganz gut, findest du nicht?«
Ich nicke, meine Wange saugt die Kühle ihrer Haut förmlich
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