Bis zum letzten Atemzug
auf. Ich denke an Augie und P. J., die so weit weg sind, und obwohl ich weiß, dass es den Heilungsprozess verzögern wird, fange ich an zu weinen. Ich vermisse sie fürchterlich. Ich, der Mensch, der ohne einen Blick zurück einfach so fortgehen kann. »Zuhause«, gebe ich krächzend von mir.
Meine Mutter sieht einen Moment verwirrt aus, und eine Sekunde lang weiß ich, dass sie denkt, ich will nach Broken Branch zurück, aber dann klärt sich ihr Blick. »Dein Haus ist durch Rauch und Feuer zu sehr beschädigt. Wenn du hier entlassen wirst, kannst du ein paar Tage mit in meinem Hotel wohnen. Dann kommst du eine Weile mit mir auf die Farm, bis du wieder ganz auf den Beinen bist. Wir finden ein neues Haus für dich. Ich habe bereits angefangen, mir die Zeitungsanzeigen anzusehen.« Sie versteht nicht, was ich wirklich meine, aber ich bin zu müde, es ihr zu erklären. Das Fieber hat mein Gehirn benebelt, sodass ich sowieso nicht die richtigen Worte finden würde. Und auch wenn die meisten meiner Verbrennungen langsam heilen, weiß ich, dass es mir nicht wirklich besser geht, denn keiner spricht mehr über den Tag, an dem ich hier entlassen werde. Manchmal ist das Zuhause nicht ein Haus, will ich sagen, es sind die Menschen. Augie und P. J. sind mein Zuhause, und ich vermisse sie fürchterlich.
MRS OLIVER
»Setzen. Dorthin«, befahl der Mann und zeigte auf einen leeren Stuhl in der ersten Reihe. Das war der Platz von Lily Reese. Sie war eine der fehlenden Schülerinnen. Windpocken.
»Wie viele Schüler fehlen heute?«, fragte er.
Mrs Oliver hatte bedauert, dass Lily und Maria Barrett diesen letzten Tag vor den Frühjahrsferien verpassten. Jetzt war sie dafür dankbar. Sie wünschte, es hätte eine Epidemie von Windpocken, Grippe und Maul- und Klauenseuche gegeben. Alles, nur nicht das hier. Sie blieb stumm, wollte nicht das kleinste Bisschen über ihre Schüler preisgeben.
»Wie viele«, wiederholte er scharf. Mrs Oliver zuckte zusammen.
»Nun, nun«, sie hob die Hände in einer beruhigenden Geste. »Zwei. Zwei Schüler fehlen heute«, sagte sie schnell. Der Blick des Mannes glitt erneut suchend durch den Raum. »Was wollen Sie? Ich bin sicher, dass diese Kinder nichts damit zu tun haben …«
»Ich habe gesagt, Sie sollen sich setzen«, sagte er. Mrs Oliver setzte sich überrascht auf Lilys Stuhl. Sie hatte immer gedacht, nur Lehrer und Footballtrainer würden diesen Ton beherrschen. Diesen Ton, der bedeutete, ich meine es ernst.
»Wenn ihr alle einfach ruhig sitzen bleibt und tut, was ich euch sage, wird niemandem etwas geschehen.«
Mrs Oliver schlug die Hand vor den Mund und hoffte, dass niemand ihr Lächeln sah. Sie konnte nicht anders. Das waren genau die Worte, die der Böse in Cals Lieblingskrimiserie im Fernsehen gestern Abend gesagt hatte. Sie fragte sich, ob dieser Mann die Serie auch schaute. Vielleicht saß er abends mit einer Flasche Bier und einer Schüssel Popcorn vor dem Fernseher und machte sich Notizen, was man in einer solchen Situation sagen könnte. Mrs Oliver schien immer in den unpassendsten Situationen von Lachanfällen übermannt zu werden. Als der Pastor sich bei der Beerdigung ihrer Cousine Bette trompetend geschnäuzt hatte, hatte sie vergeblich versucht, ihr rot angelaufenes Gesicht hinter einem Taschentuch zu verbergen und war schließlich aufgestanden und hatte die Kirche verlassen. Dann war da das eine Mal, als Cal sie während des Liebesspiels »Love Muffin« nannte und sie einen so hysterischen Lachanfall bekam, dass Cal zwei Tage nicht mehr mit ihr gesprochen hatte.
Mrs Oliver schaute auf solche Vorfälle immer mit einer Mischung aus Scham und Verwunderung zurück. Sie betrachtete sich selber gerne als eine verantwortungsvolle, ernste, respektvolle Person. Cal hatte gesagt, sie könne mit wirklich emotionalen Situationen nicht umgehen, und zu lachen und zu spotten wäre ihre Art, diese Unfähigkeit zu verbergen. Sie hatte ihn daraufhin gefragt, ob sein Abschlusszeugnis der achten Klasse und seine zweiundfünfzig Jahre in der Waschmaschinenfabrik ihn als Psychiater qualifizierten. Danach hatte er vier Tage nicht mit ihr gesprochen. Sie hatte sich nicht über seine Bildung lustig machen wollen. Im Gegenteil, Cal war einer der klügsten Menschen, die sie je getroffen hatte. Er konnte beinahe alles reparieren. Er war gut im Umgang mit ihren Finanzen, und in Sachen Beziehungsfragen wandten sich ihre Kinder grundsätzlich an ihn, nicht an sie. Seine Arbeit in der
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