Bis zum letzten Atemzug
Wochen des Schuljahres hatte Russell sein Spiel fortgesetzt, als wäre nichts geschehen. »Guten Morgen, Delores, Lorraine, Ramona?« Und Mrs Oliver hatte immer nur geheimnisvoll gelächelt.
Sie war also mehr als gewillt, das Ratespiel mit diesem Mann aufzunehmen, vor allem wenn das bedeutete, dass sie ihre Schüler heil hier heraus und zu ihren Familien schicken könnte. Sie hatte ein hervorragendes Gedächtnis. Wenn sie nur lange genug darüber nachdachte, konnte sie sich an jeden einzelnen ihrer früheren Schüler und deren Eltern erinnern. Ganz sicher war das hier kein zufälliger Überfall.
»Sicher, raten Sie drauflos«, sagte der Bewaffnete und schaute sie aus seinen leblosen Augen an.
»Und wenn ich richtig liege, lassen Sie die Kinder gehen?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Ja, und für jede falsche Antwort darf ich eines erschießen.«
MEG
Jemand klopft gegen die Scheibe des Streifenwagens und wischt dann die dünne Schneeschicht, die das Glas bedeckt, fort. Ein runzeliges, besorgt aussehendes Gesicht spähte in den Wagen. Gail fängt erneut an zu weinen. »Kann ich jetzt gehen?«, fragt sie und greift nach dem Türgriff. Ihr Ehemann Merle, der mindestens fünfzehn Jahre älter ist als sie, steht neben dem Auto und wartet darauf, dass sie zu ihm kommt.
Ich schaue den Chief an, der den Kopf schüttelt. »Noch nicht, Gail, aber wir werden jemanden organisieren, der dich und Merle aufs Revier bringt. Wir benötigen eine Beschreibung des Mannes, den du gesehen hast. Danach kannst du nach Hause gehen.«
»Ich fühle mich so schlecht«, sagt Gail mit brechender Stimme. »Ich müsste mit allen anderen da drinnen sein, aber Mrs Brightman hat mir gesagt, ich sollte weglaufen, solange ich noch die Möglichkeit dazu habe.«
»Mrs Brightman hat dir gesagt, du sollst gehen?«, hakt Chief McKinney nach. Margaret Brightman ist die Schulrektorin. »Was hat sie gerade gemacht, als du gegangen bist?«
»Sie war es, die den Stuhl durchs Fenster geworfen hat. Es gab keine andere Möglichkeit, aus dem Bürotrakt herauszukommen – er hat die Tür mit einer Kette versperrt oder auf andere Weise blockiert.« Ich sehe den Chief überrascht an. Margaret Brightman ist definitiv nicht der Typ, der mit Stühlen wirft. Gail fährt schniefend fort. »Als ich aus dem Fenster geklettert bin, hat sie sich geweigert, mitzukommen. Sie hat immer noch verzweifelt versucht, den Notruf zu erreichen. Aber die Telefone in der Schule funktionieren nicht. Ich schätze, deshalb war der Mann im Keller, um die Leitungen durchzuschneiden. Margaret hat ihr danach Handy benutzt und ist das erste Mal aus der Leitung geworfen worden. Als sie es dann noch einmal versucht hat, war ständig besetzt.« Gail schüttelt den Kopf. »Ich wusste nicht, dass das überhaupt geht. Sie hat gesagt, sie würde nicht eher aus der Schule kommen, bis alle ihre Schüler und Mitarbeiter in Sicherheit wären.«
»Was ist mit dem Hausmeister?«
Mrs Lowell zupft an ihrer Halskette und setzt sich gerade hin. »Harlan. Harlan Jones. Sein Büro ist unten, direkt neben dem Heizungsraum.« Sie schaut den Chief besorgt an. »Glaubst du, er hat Harlan etwas angetan?«
Ich versuche, die Unterhaltung voranzubringen, bevor die Enormität dessen, was geschehen ist, bei ihr sacken kann. »Gail, war außer dir und Mrs Brightman noch jemand im Bürotrakt? Irgendwelche Lehrer oder Schüler? Ist die Schulkrankenschwester noch da?«
»Nein, sie ist heute in der Schule in Dalsing. Es waren nur Margaret und ich. Ich hatte gerade eine Vorschülerin zurück in ihre Klasse geschickt. Sie hatte über Magenschmerzen geklagt, und ich habe sie zurück geschickt.«
Mein Handy vibriert. Ich werfe einen Blick auf das Display, für den Fall, dass es Maria oder Tim sind. Aber es ist wieder Stuart. Er hört einfach nicht auf. Als ich vor zwei Wochen die Sonntagsausgabe des Des Moines Observer aus dem Briefkasten geholt und die Titelseite gesehen habe, hat mein Magen sich schmerzhaft zusammengezogen. Ich weiß nicht, wie genau Stuart an das Vergewaltigungsopfer herangekommen ist, wie er sie mit dem mächtigsten Mann in Stark County in Verbindung gebracht hat, aber ich weiß, dass er die Information von mir hat, wenn auch unwissentlich und ganz sicher unfreiwillig.
Eines späten Abends im Januar wurde ich zum Haus von Martha und Nick Crosby gerufen. Ihre neunzehn Jahre alte Tochter Jamie war an dem Abend vollkommen aufgelöst und mit einem verdächtig aussehenden blauen Fleck im Gesicht nach Hause
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