Bis zum letzten Atemzug
ein Kontaktverbot erwirkt hat«, sagte ein alter Mann mit einem runzeligen roten Gesicht und einer schuppigen Stelle auf der Nasenspitze. »Und das nach allem, was Ray Cragg für sie getan hat.«
»Sie lässt ihn nicht mal seine eigenen Mädchen sehen«, warf ein Mann im Overall ein. Sie schüttelten die Köpfe, als wäre es das Traurigste, was sie je gehört hatten, doch ich sah das Lächeln in ihren Augen. Sie waren genauso schlimm wie die Achtklässlerinnen aus meiner Schule daheim in Revelation, als sie herausfanden, dass Cleo Gavin schwanger war und angeblich nicht wusste, von wem.
»Nun, nun«, hatte mein Grandpa gesagt. »Wir wissen nicht wirklich, was da vorgefallen ist. Macht die Sache nicht schlimmer, als sie sowieso schon ist.« Die Männer hatten schuldbewusst auf ihre dreckigen Schuhe gestarrt, und dann hatte jemand angefangen, darüber zu reden, wie feucht der Frühling dieses Jahr werden sollte. In dem Moment wusste ich, dass mein Grandpa ein wichtiger Mann in Broken Branch war, auch wenn das nicht dazu führte, dass ich ihn mehr mochte.
»Das ist er bestimmt nicht«, flüstere ich Beth ins Ohr, ohne zu wissen, ob es stimmte oder nicht. »So etwas würde dein Dad nie tun.«
Sie leckt sich über die rauen Lippen und schaut sich um, ob uns irgendjemand belauscht. »Ich denke, er wäre durchaus dazu in der Lage«, sagt sie traurig. »Ja, ich glaube, er ist es.«
MRS OLIVER
Mrs Oliver wartete auf eine Reaktion des Mannes. Sie beugte sich auf ihrem Stuhl vor und suchte in seinem Gesicht nach einem Hinweis darauf, dass sie richtig lag.
»Wer zum Teufel ist Kenny Bingley?«, fragte der Mann. »Glauben Sie etwa, ich war einer Ihrer Schüler?« Er klang ungläubig. »Tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss, Ma’am, aber Ihre Beteiligung an dem Ganzen hier ist reiner Zufall. Das alles hat absolut nichts mit Ihnen zu tun.«
Mrs Oliver sackte unglücklich auf ihrem Stuhl zusammen und war sich mit einem Mal der Tatsache nur zu bewusst, dass ihr fünfundsechzig Jahre altes Hinterteil nichts auf einem Stuhl für Drittklässler zu suchen hatte. Immerhin hatte sie jetzt zwei Hinweise auf die Identität des Mannes. Zum einen war er höchstwahrscheinlich wirklich keiner ihrer ehemaligen Schüler. Und zum anderen war er definitiv an einem der Kinder in der Klasse interessiert. Wieder und wieder musterte er ihre Gesichter, als wenn er nach jemandem suchte. Ja, eines der Kinder in diesem Raum war der Schlüssel zu allem. Dieses Wissen machte sie mutig. »Dann sagen Sie mir, was Sie wollen«, drängte sie ihn. »Warum um alles in der Welt müssen Sie eine Klasse voller Achtjähriger als Geiseln nehmen? Wie können wir Ihnen zu irgendetwas nütze sein?«
Der Mann schaute auf seine Uhr. »Das werden Sie schon bald genug sehen«, erwiderte er.
»Was, wenn ich es errate?«, fragte Mrs Oliver, der plötzlich eine Idee gekommen war.
»Was erraten?«, gab der Mann zurück, während er abwesend sein Handy betrachtete.
»Wenn ich errate, wieso Sie hier sind, werden Sie die Kinder dann gehen lassen? Sie brauchen doch ganz bestimmt keine achtzehn Geiseln, oder? Eine sollte doch reichen.«
Für Mrs Oliver war das kein neues Spiel. Seit vierzehn Jahren wusste nicht ein einziger ihrer Schüler, dass ihr Vorname Evelyn lautete. Eher durch Zufall war das zu einem Wettkampf zwischen ihnen geworden. Im Laufe der Jahre hatten sie immer wieder versucht, ihren Namen zu erraten, wie eine moderne Version von Rumpelstilzchen, aber ohne die schöne Prinzessin oder den ulkigen kleinen Mann, zumindest, wenn man Russell Franco nicht mitzählte, der fest entschlossen war, das Geheimnis zu lüften.
»Gertrude?«, hatte er gesagt, wenn sie die Klasse betrat. »Shirley, Margaret, Sally, Diana, Inger, Raquel?« Mrs Oliver schüttelte immer nur den Kopf und bedeutete Russell, sich zu setzen. Eines Frühlingstages gegen Ende des Schuljahres – kaum zu glauben, dass das schon dreißig Jahre her war – stolzierte Russell vor allen anderen Schülern in das Klassenzimmer und sagte überheblich: »Guten Morgen, Evelyn. « Mrs Oliver war fix und fertig. Es machte ihr nichts aus, dass ihre Schüler ihren Vornamen wussten; sie mochte es nur einfach nicht, zu verlieren.
»Guten Morgen, Russell Hubert «, hatte sie leichthin erwidert. Russell war erstarrt und hatte sie angeschaut, als wolle er sagen: »Das wagen Sie nicht.«
Und Mrs Oliver hatte nur gelächelt und ihn dadurch wissen lassen, dass sie es sehr wohl wagen würde. Die verbleibenden
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