Bis zum letzten Atemzug
gekommen.
»Sie will uns einfach nicht erzählen, was passiert ist«, hatte Martha mir mit tränenerstickter Stimme gesagt. »Sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und weigert sich, herauszukommen.« Nick Crosby war mit zu Fäusten geballten Händen im Wohnzimmer auf und ab getigert. Die beiden jüngeren Kinder der Crosbys, die ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten waren, standen in ihren Schlafanzügen und mit nackten Füßen dabei und sahen zu Tode erschrocken aus.
»Lass es mich mal versuchen«, sagte ich und schickte die Familie in die Küche.
Vorsichtig klopfte ich an Jamies Zimmertür. »Jamie, ich bin’s, Meg Barrett.« Meinen Titel als Police Officer ließ ich extra weg. Sie wusste, welchen Beruf ich hatte, aber ich wollte sie nicht noch mehr verschrecken, als sie es ohnehin schon war. »Deine Mom und dein Dad machen sich große Sorgen um dich.« Ich hielt inne, wartete auf eine Antwort. Nichts. Nur der schwere Atem von jemandem, der versucht, sein Schluchzen zu unterdrücken. »Warum machst du mir nicht die Tür auf, Jamie, damit wir uns unterhalten können? Nur du und ich? Die anderen habe ich in die Küche geschickt.«
Ich hörte das Rascheln von Schritten auf der anderen Seite der Tür. »Bitte gehen Sie weg«, kam Jamies brüchige, raue Stimme.
Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und sprach in leisem, beruhigendem Ton. »Ich will nur sichergehen, dass du keinen Arzt brauchst, Jamie. Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst. Versprochen.«
Nach fünf Minuten des Schweigens wurde die Tür langsam geöffnet und ein weit aufgerissenes, angsterfülltes braunes Auge schaute mich an. Ich wartete, bis Jamie nickte und einen Schritt zur Seite machte, bevor ich den Raum betrat. Es war das typische Zimmer eines Teenagers. Überall lagen Klamotten herum, an den Pinnwänden hingen Fotos von Freunden, blaue Schleifen, die sie bei Pferdeturnieren gewonnen hatte, Konzerttickets und ein Kampagnenfoto von Greta Merritt, einer örtlichen Geschäftsfrau, die als jüngste und heißeste Anwärterin auf den Posten der Gouverneurin von Iowa ins Rennen ging. Als Jamie sah, dass ich das Foto anschaute, brach sie schluchzend zusammen. Ich wusste, dass Jamie als Babysitter für die beiden Kinder der Merritts arbeitete und auch bei der Kampagnenarbeit half.
Ich musterte sie sorgfältig, denn mir war klar, dass sie sich bei einer falschen Bewegung von mir sofort wieder verschließen würde. Ihr linkes Auge war leicht geschwollen und fing schon an, sich lila zu verfärben. Ihren rechten Arm hielt sie ganz nah an ihrem Körper. Ich wartete und schaute mich auf der Suche nach einem Hinweis in ihrem Zimmer um. Ein Foto von einem Freund oder Ähnliches. Mein Blick blieb an einer Pinnwand hängen. Sie hing voller Krimskrams von Merritts Kampagne – Buttons, Schnappschüsse, Aufkleber. Ein Foto weckte meine Aufmerksamkeit. Greta Merritt mit ihrem Tausend-Watt-Lächeln, den Arm um die Taille ihres attraktiven Ehemannes Matthew geschlungen. Zwischen den beiden blonden Kindern stand Jamie Crosby und lächelte schüchtern in die Kamera.
»Jemand hat dir wehgetan«, sagte ich, ohne meinen Blick von dem Foto zu nehmen.
»Ja«, flüsterte sie.
»Du hast uns sehr geholfen, Gail«, sagt der Chief und öffnet ihr die Autotür. Der Schwall kalte Luft bringt mich in die Gegenwart zurück.
Gail sieht nicht sonderlich überzeugt aus, also beuge ich mich vor. »Er hat recht. Wir brauchten dich hier draußen, um uns die ganzen Informationen zu geben. Jetzt wissen wir, mit wem wir es zu tun haben, und können den Menschen da drinnen helfen.«
Gail nickt und drückt die Tür weiter auf. Merle ist sofort zur Stelle und hilft ihr, aus dem Wagen auszusteigen. Er zieht sie in seine Arme. Mit gesenktem Kopf, um den beiden etwas Privatsphäre zu geben, gehe ich schnellen Schrittes an ihnen vorbei. Ein Mann und eine Pistole. Das ist nicht viel, aber mehr, als wir bisher gewusst haben.
AUGIE
Beth schaukelt sanft vor und zurück, ihre Schulter streift meine. Sie hat die Hände immer noch vors Gesicht geschlagen und murmelt irgendetwas vor sich hin. Ich brauche ein paar Minuten, um zu erkennen, dass sie betet. Sie spricht ein Gebet, das ich einmal beim Zappen im Fernsehen gehört habe. Es wurde von einer Frau vorgetragen, die viel zu stark geschminkt war und vor einer riesigen Menschenmenge stand. Viele der Leute hatten ihre Augen geschlossen, bei einigen glitzerten Tränen auf den Wangen, sie hatten die Arme gen Himmel gestreckt, und
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