Bis zum letzten Atemzug
Ich fühlte mich stellvertretend für sie schuldig. »Gott führt keine Anwesenheitsliste, und selbst wenn jemand jeden Tag in die Kirche geht, macht ihn das noch lange nicht zu einem Heiligen.«
Ich beobachtete sie, wie sie da an der Spüle stand und den Reis von ihrem Teller in den Mülleimer kratzte. Es war die gleiche Spüle, an der sie eine Woche später stehen würde, an der die verbrannte Haut sich von ihren Armen lösen und den Abfluss hinunterwirbeln würde. Manchmal frage ich mich, ob ihre Verbrennungen eine Strafe für ihre Worte waren, obwohl ich tief im Inneren weiß, dass das keinen Sinn ergibt, dass Gott nicht so gemein ist.
Ich schaue auf die Uhr an der Wand. Wir sitzen hier noch keine Stunde, doch es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Mr Ellery rutscht von seinem Pult, greift in seine Tasche, holt sein Handy heraus, schaut es eine Minute lang an und steckt es wieder zurück.
»Warum hat noch keiner angerufen?«, fragt Beth plötzlich. »Warum ist noch keiner gekommen, um uns hier herauszuholen?«
Mr Ellery schüttelt den Kopf. Ich frage mich das Gleiche. Ich kann nicht glauben, dass wir immer noch keine Polizeisirenen oder Helikopter oder so gehört haben. Zu Hause in Arizona wurden wir alle paar Monate in unserer Schule eingeschlossen, aber nie ist etwas Schlimmes passiert. Es handelte sich immer um Vorfälle in der Nachbarschaft, nie direkt in der Schule. Ich fragte mich auch, wie es P. J. wohl geht. Er ist so eine Heulsuse. Vermutlich hockt er in diesem Moment unter irgendeinem Tisch.
Als Mom sich verbrannt hat, hat P. J. nicht geholfen, sondern ist stattdessen in sein Zimmer gerannt und hat sich unter der Bettdecke versteckt. Was ich irgendwie verstehen kann. Es war unglaublich gruselig, zu sehen, wie unsere Küchenvorhänge in Flammen aufgingen und Mom sie mit bloßen Händen herunterriss, wobei das Feuer an ihren Armen leckte, bis es aussah, als hielte sie einen Ball aus Flammen in den Händen. Es war schlimm genug, zu versuchen, Mom aus dem Haus zu kriegen. Ich musste sie von der Spüle wegzerren und durch die Haustür schieben, während sie die ganze Zeit rief: »P. J., P. J.!« Aber P. J. rauszukriegen war nahezu unmöglich. Er kam einfach nicht hervor, sodass ich schließlich die Decke packen und ihn wie einen Sack Müll hinter mir herziehen musste. Der Rauch hing dicht und schwarz in der Luft; meine Lungen fühlten sich gequetscht an, und mit jedem Atemzug meinte ich, gemahlene Kohle zu schlucken. P. J. durch den rauchgeschwängerten Flur zu zerren war anstrengend, und meine Arme taten nach kurzer Zeit höllisch weh. Ich konnte kaum etwas sehen, daher suchte ich mir meinen Weg allein mit den Füßen. Als ich endlich die Haustür fand und von der obersten Stufe in die helle Sonne blinzelte, kniete meine Mutter auf der Erde, eine Gruppe Nachbarn beugte sich über sie. Neben mir versuchte P. J., sich aus der Decke zu befreien. Seine Haare standen ab wie bei einem Stachelschwein, und seine Brille hing ihm schief auf der Nase.
Die Sirenen der Feuerwehr und des Krankenwagens übertönten seine Stimme. »Mom?«, rief er und stolperte die Treppen hinunter, aber bevor er sie erreichte, rannten die Feuerwehrmänner auf uns zu und hoben uns hoch und trugen uns von dem Haus weg, aus dem immer noch grauer Rauch quoll.
Ich kann mir genau vorstellen, wie P. J. jetzt in seinem Klassenzimmer hockt, Arme und Kopf im Sweatshirt verborgen wie eine Schildkröte, und bei sich denkt: Wenn ich es nicht sehe, ist es auch nicht da. »Dumme Heulsuse«, sage ich aus Versehen laut, und Noah stößt mir hart mit dem Ellbogen in die Rippen.
Unsere Nachbarin Mrs Florio hatte unseren Vater angerufen und ihm erklärt, was geschehen war. Schweigend fuhren wir auf dem Rücksitz ihres rostigen Kombis zu dem Krankenhaus, in dem mein Dad auf uns wartete.
»Meinst du, sie wird wieder gesund?«, fragte P. J. Seine braunen, verängstigt schauenden Augen wirkten noch größer durch die Brille, die vom Ruß des Feuers ganz schmutzig war.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ehrlich. Die Verbrennungen an den Händen meiner Mutter hatten so schlimm ausgesehen. An einer Seite ihres Kopfes waren die Haare weggebrannt, ihr Gesicht war ganz rot und ein Ohr voller Blasen und nässend. Bevor der Rauch sich in meinen Klamotten und meinen Haaren festgesetzt hatte, wodurch ich wie ein Lagerfeuer roch, hatte ich ihre verbrannte Haut riechen können: ein süßlicher und zugleich scharfer Geruch. Ich schluckte hart und
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