Bis zum letzten Atemzug
verabschieden.«
Mrs Oliver wagte es, dem Mann einen Blick zuzuwerfen. Wie sehr sie sich wünschte, seinen Namen zu kennen, ihn irgendwie ansprechen zu können. In den Polizeiserien, die Cal immer im Fernsehen schaute, fragte der Verhandlungsführer den Geiselnehmer immer nach einem Namen, als wenn den Namen des Verrückten zu wissen die Katastrophe irgendwie verhindern könnte. Normalerweise funktionierte das auch. Sie wartete immer noch darauf, dass ein Polizist durch ein Megafon zu ihnen sprach: »Du bist umzingelt, Bill (oder Larry oder Alphonse). Komm mit erhobenen Händen raus.«
»Geh wieder an deinen Platz und setz dich«, sagte der Mann zu Lucy. »Wir sind hier noch nicht fertig.«
Lucy fing an, ihre Hände zu wringen, wie sie es immer tat, wenn ihr sorgfältig ausgearbeiteter Tagesplan durcheinandergebracht wurde. »Die Glocke hat geläutet, der Bus kommt.« Lucy richtete ihre Worte an Mrs Oliver, weil sie instinktiv spürte, dass dieser Mann ihr nicht freundlich gesinnt war und definitiv nicht auf die Uhrzeit achtete.
»Lucy, Liebes«, sagte Mrs Oliver beruhigend. »Die Busse verspäten sich heute.« Sie wünschte sich beinahe, dass Mrs Telford, Lucys Betreuerin, die ihr half, die Besonderheiten des Schullebens zu begreifen, heute hier wäre. Aber sie war leider auf einer Kreuzfahrt irgendwo in der Karibik.
Lucy krampfte die Hände fester zusammen, bis ihre Fingernägel weiß und blutleer aussahen. »Der Bus fährt gleich, Mrs Oliver«, beharrte sie.
»Bringen Sie sie dazu, sich zu setzen«, befahl der Mann. »Es wird nicht mehr lange dauern. Sagen Sie ihr, sie wird in Kürze nach Hause gehen können.«
Zu diesem Zeitpunkt hatte Lucy sich bereits wieder an ihren Platz zurückgezogen. Sie hob die Tischplatte an und holte aus dem darunterliegenden Fach einen Stapel Bücher hervor. »Es ist an der Zeit, zum Bus zu gehen«, sagte sie wie jeden Tag, nur dass ihre Worte heute erstickt klangen. »Auf Wiedersehen und einen fröhlichen Frühlingsanfang«, fügte sie hinzu und machte sich auf den Weg zur Tür.
»Hey!«, rief der Mann. »Stopp!« Er sprang von seinem Stuhl auf und packte Lucy grob an der Kapuze ihres Sweatshirts.
Als Mrs Oliver sich endlich von ihrem Stuhl erhoben hatte – ihr Rücken protestierte unter der abrupten Bewegung –, zog der Mann Lucy bereits zurück zu ihrem Platz. »Lassen Sie sie los!«, rief Mrs Oliver und humpelte zu ihnen. »Lassen Sie sie sofort los!«
»Hören Sie«, sagte der Mann angestrengt, während er sich mit einer sich wehrenden und windenden Lucy abkämpfte. »Ich will genauso wenig wie Sie, dass jemand verletzt wird, aber diese Kinder müssen auf ihren Plätzen bleiben und den Mund halten.«
»Lassen Sie sie los!« Mrs Oliver fing an, seine Finger von dem kleinen Mädchen zu lösen. »Sie mag es nicht, angefasst zu werden. Lassen Sie sie einfach los. Ich werde mit ihr reden und versuchen, sie zu beruhigen.«
Der Mann ließ Lucy abrupt los, und sie sackte zu einem kleinen Häufchen auf dem Boden zusammen und weinte. Mrs Oliver kniete sich vorsichtig hin, so wie vor dreiundvierzig Jahren, nachdem Bert Gorse von dem Baum gefallen war. Ihre Gelenke knackten bei jeder Bewegung. »Pst, Lucy, ist ja gut«, flüsterte sie dem Mädchen ins Ohr, wobei sie darauf achtete, sie nicht zu berühren. Aus Gründen, die Mrs Oliver nicht kannte, reagierte Lucy auf unerwartete Berührungen wie jemand, dessen Hand man über eine Flamme hielt. »Pst, alles wird wieder gut. Es ist nur eine kleine Änderung im Plan, keine große Sache. Wir haben darüber schon mal gesprochen.«
»Aber die Glocke hat geläutet«, sagte Lucy hicksend. »Der kleine Zeiger hat auf die Eins gezeigt und der große auf die Vier. Das ist die Zeit, zu der wir zum Bus gehen müssen.« Lucy lag mit angezogenen Knien auf dem Rücken und fing an, mit ihren Füßen auf den Boden zu trampeln, erst langsam und rhythmisch, dann immer schneller und beharrlicher. Das Trommeln dröhnte durch den Raum. Mrs Oliver hörte einige der anderen Schüler weinen und leise jammern. Lucys Ausbrüche waren an guten Tagen schon verstörend, aber an einem Tag, an dem ein mit einer Pistole wedelnder Mann im Klassenzimmer stand, waren sie nahezu Furcht einflößend.
»Hör sofort damit auf, Lucy. Du wirst dir noch wehtun.« Vorsichtig legte Mrs Oliver eine Hand auf Lucys Knie, um das Trampeln zu unterbrechen.
»Kleiner Zeiger auf eins, großer Zeiger auf vier. Zeit. Für. Den. Bus!« Lucy biss die Zähne fest aufeinander, ihre
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