Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis zum letzten Atemzug

Bis zum letzten Atemzug

Titel: Bis zum letzten Atemzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudenkauf
Vom Netzwerk:
leicht. Außerdem war er nicht mehr so sicher auf den Beinen wie früher, und sie hatte Angst, er könnte auf dem Eis ausrutschen oder mit dem Auto von der Straße abkommen oder Schlimmeres. Seit ihrer ersten Begegnung war Cal immer zu ihrer Rettung geeilt.
    Er war zum Haus der Fords gekommen, um die Waschmaschine zu reparieren, die mitten in einem Waschgang von Mrs Fords Unterwäsche ihren Geist aufgegeben hatte. Als Cal mit seinem Werkzeugkasten und dem schiefen Grinsen ins Haus kam, hätte sie nie gedacht, dass aus ihnen beiden so schnell Freunde und irgendwann sogar ein Ehepaar werden würde. Sie war einfach nur dankbar, mit jemandem außer Mrs Ford reden zu können, die endlos über ihren verstorbenen Sohn plapperte. Nicht, dass Evelyn kein Interesse daran hatte, Geschichten aus Georges Kindheit zu hören, aber sie stachen ihr jedes Mal wie ein Messer ins Herz. Sie zog es vor, sich in der Abgeschiedenheit ihres Schlafzimmers an George zu erinnern, wo sie sein Highschoolabschlussfoto herausholen und neben sich aufs Kopfkissen legen konnte. Auf dem Foto war sein Haar glatt aus der Stirn gekämmt, und er trug seinen einzigen Anzug. Sein Mund war zu einem breiten Grinsen verzogen, und sie sah das Lachen in seinen Augen, das nur darauf wartete, herauszuplatzen. Evelyn liebte dieses Foto von George, wohingegen Mrs Ford das Army-Foto ihres Sohnes vorzog, in dem er seine Ausgehuniform mit den blitzenden Messingknöpfen trug. Unter der weißen Mütze mit dem schwarzen Schirm war sein Haar ganz kurz geschnitten, was seine Ohren wie die Griffe an einer Zuckerdose hervorstehen ließ. Seine Miene war verschlossen und ernst. Das war so gar nicht der George, den Evelyn kannte, und deshalb ließ sie ihren Blick nie zu lange auf diesem Foto verweilen.
    Als Cal Oliver dann ins Haus kam und die knarrenden Stufen in den Keller hinunterging, wo die Waschmaschine stand, folgte Evelyn ihm. »Sie können das doch reparieren, oder?«, fragte sie von ihrem Platz auf der Tiefkühltruhe.
    »Da bin ich mir noch nicht sicher«, erwiderte Cal abwesend.
    »Ich hoffe, Sie schaffen es.« Evelyn schaute auf ihre Hände, die ganz rot und rau waren vom Waschen der Wäsche per Hand.
    »Nun, Waschmaschinen sind wie Menschen. Sie haben nur eine gewisse Zeit auf Erden. Einige halten länger als andere.« Als Evelyn weder lachte noch seinen kleinen Witz kommentierte, schaute Cal auf und sah ihren traurigen Gesichtsausdruck. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er besorgt.
    »Ja. Aber was, wenn die Waschmaschine von einer Gruppe … dreckiger Unterwäsche überfallen wurde und weit vor ihrer Zeit starb? Das erschiene mir nicht fair.«
    Evelyn erwartete, dass Cal die Augenbrauen heben und ihr sagen würde, sie solle ihn in Ruhe seine Arbeit tun lassen, doch das tat er nicht. Stattdessen machte er eine sehr ungewöhnliche Bemerkung. »Ich würde sagen, die Waschmaschine hat tapfer ihre Arbeit erledigt. Sie hat getan, wozu sie berufen war, nämlich die Welt von Schmutz und Dreck zu befreien. Und ich würde sagen, obwohl die Waschmaschine zu früh von uns gerufen wurde, hat sie ihre Pflicht erledigt, damit andere Waschmaschinen ihren Dienst verrichten können und ein langes, sicheres Leben haben.«
    »Oh.« Mehr hatte Evelyn nicht sagen können. Aber sie hatte sich sofort besser gefühlt. Den Rest des Nachmittags hatte sie damit verbracht, Cal das Werkzeug anzureichen und sich mit ihm zu unterhalten. Sie erzählte ihm alles über George und ihre Wohnsituation mit den Fords. Und Cal erzählte ihr, dass er aufgrund eines Herzfehlers nicht zur Army hatte gehen können und sein älterer Bruder in Binh Gia getötet worden war. Er hatte es nicht ausdrücklich gesagt, aber sie hatte dennoch den Eindruck bekommen, dass er eine Mischung aus Schuldgefühlen und Erleichterung darüber verspürte, seinem Land nicht dienen zu können.
    Das plötzliche Geräusch von siebzehn zusammenschreckenden Körpern, die auf ihren Stühlen zuckten, als die Glocke ertönte, die das Schulende ankündigte, holte Mrs Oliver in die Gegenwart zurück. Sie trat ans Fenster und schaute durch die Lamellen der Jalousie hindurch nach draußen. Der Schnee hing schwer im stahlgrauen Himmel. Hinter sich hörte sie das leise Kratzen von Stuhlbeinen auf dem Linoleumboden, gefolgt von schlurfenden Schritten eines ihrer Schüler.
    »Wir müssen jetzt gehen«, sagte Lucy mit ihrer monotonen Stimme. Das Mädchen stand direkt neben Mrs Olivers Ellbogen. »Es ist an der Zeit, uns voneinander zu

Weitere Kostenlose Bücher