Bis Zum Letzten Tropfen
Schwachstelle Ausschau zu halten, bevor sie erneut zuschlagen.
– Die Farbe ist okay, aber eine Toga oder ein Umhang wär für mich nie infrage gekommen.
Ich beachte ihn nicht weiter, sondern studiere stattdessen die anderen. Meine Pupillen weiten sich, nehmen mehr Licht auf, das Lagerhaus wird größer, und ich sehe, wie viele wirklich hier sind. Mehr als Hundert. Viel mehr. Doppelt so viele. Mindestens.
Ich blicke ihn an.
Er nickt.
– Oh ja, Mann. Ich war ziemlich fleißig.
– Einem alten Freund wie dir kann ich’s ja sagen: Das ist alles nicht so leicht. Dieser Scheiß ist sogar ziemlich anstrengend. Na ja, zum Beispiel diese Meditationskacke. Stinklangweilig. Einfach nur rumhocken und über das Vyrus nachdenken und so. Und dann die Sparringskämpfe. Am Anfang war ich ja noch begeistert, wollte Kung Fu lernen und so. Aber das ist scheißharte Arbeit. Schmerzen ohne Ende, Mann. Die tun nicht nur so, da wird nichts angetäuscht. Du musst, also, ach, warte, ich zeig’s dir. Schlag mich, so fest du kannst.
Er hat mich in eine kleine Kammer in dem Stockwerk über der Haupthalle geführt und kommt auf mich zu.
– Ohne Scheiß, Mann. Hau mich, so fest du kannst.
Ich spähe zu den zwei Enklavejüngern hinüber, die auf dem Boden vor der geöffneten Tür hocken.
Er winkt ab.
– Nein, Mann. Vor denen brauchst du keine Angst haben. Die tun nichts ohne meinen Befehl. Alles cool. Also, hau mir eine rein. Ich weiß, dass du’s gerne tun würdest.
– Graf, warum, zum Teufel, sollte ich dich schlagen, wenn du es erwartest?
Er schüttelt den Kopf.
– Der gute alte Joe Pitt, derselbe Spielverderber wie eh und je. Da studiert man, gewinnt neue Erkenntnisse und Fähigkeiten, ändert sich und will anderen helfen. Aber du, du spielst nach wie vor die beleidigte Leberwurst. Beschissener Griesgram.
Einer seiner nackten Füße schnellt in einem Karatetritt vor. Es ist der Fuß mit den krumm zusammengewachsenen Knochen. Der Fuß, den ich ihm ruiniert habe.
Er senkt den Fuß und grinst.
– Aber ist schon okay, kein Problem. Ich wollte dir damit nur begreiflich machen, wie schwierig der ganze Scheiß ist. Zur Enklave gehören und so. Klar, sicher, das Vyrus wählt dich aus, da kannst du nichts machen. Entweder gehörst du zur Enklave oder nicht. Das hat zumindest dein alter Kumpel Daniel immer behauptet, oder? Scheiße, ich wär überhaupt nicht hier, wenn ich es nicht in mir hätte. Und du auch nicht, wenn ich es recht bedenke. Hätte uns Daniel nicht für enklavetauglich gehalten, hätten wir dieses Lagerhaus überhaupt nie betreten. Außer zu unserer Hinrichtung vielleicht. Aber der Punkt, auf den ich hinauswill, ist doch Folgender: Selbst wenn dich das Vyrus in die Enklave steckt, ist es immer noch sauanstrengend. Ich weiß, das klingt jetzt etwas unglaubwürdig, besonders angesichts der Meinung, die du von mir hast, aber dieser Scheiß hier verändert dich. Er verändert dich wirklich.
Er klatscht eine Faust in die Handfläche.
– Ja, ich weiß, das klingt jetzt etwas übertrieben. Denn wenn dich das Vyrus nicht verändert, was dann? Aber jetzt pass auf. Das Vyrus macht dich ja nicht zu einem anderen Menschen, oder? Ich zum Beispiel war ja nach wie vor noch ein verwöhnter, stinkreicher Bengel, auch wenn ich zufälligerweise Menschenblut zum Überleben brauchte. Dass ich so völlig ichbezogen war, hat die Verwandlung nur erleichtert. Ich meine, wenn man reich ist, lebt man ohnehin wie ein Parasit und Blutsauger, also war das nichts wirklich Neues für mich. Aber diese Sache hier, die zu kapieren, das ist ’ne Menge Arbeit. Ein völlig neues Konzept für mich. Arbeit? Holla, das ist nichts für mich.
Er beugt sich vor.
– Aber hier das Kommando zu übernehmen, nachdem Daniel ins Gras gebissen hat, das schon.
Er zieht die Augenbrauen dramatisch nach oben.
– Allerdings musste ich anfangen, eine Rolle zu spielen. Immer finster gucken, ernst sein, bedeutungsschwere Sachen sagen und solchen Scheiß. Wie die anderen auch. Sich in die Reihe hocken und so tun, als würde man über das Vyrus nachdenken. Lernen, wie man einen Schlag einsteckt, mit dem einem das Gegenüber den Brustkorb aus dem Leib reißen will. Nehmerqualitäten entwickeln.
Er streckt die Arme aus und deutet mit beiden Zeigefingern auf mich.
– Was ich inzwischen ganz gut kann. Ich hätt’s dir ja gezeigt, aber du wolltest mich ja nicht schlagen, Mann.
Er lässt die Arme sinken.
– Es läuft folgendermaßen: Obwohl du nur Theater
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