Bis Zum Letzten Tropfen
Amanda beschrieben hat: die T-Gedächtniszellen hören auf, das eigene Immunsystem daran zu erinnern, was es angreifen soll und was nicht.
Verrückt vor Hunger peitscht das Vyrus ihr Nervensystem. Verzweifelt versucht es, sie zur Nahrungsaufnahme zu bewegen. Dem Tode nahe, aktiviert es alle verbliebenen Ressourcen des Wirts, damit dieser genug Energie für die Jagd hat.
Daher sind sie stark, schnell und unempfindlich gegenüber Schmerzen. Wenn du einem von ihnen den Arm abreißt, wird er ihn aufheben und dich damit totprügeln.
Sie vibrieren vor Irrsinn.
Und diese Vibrationen spüren die Kids auf der Straße.
Ich spüre sie ebenfalls. Der Wahnsinn dieses Ortes geht mir an die Nieren. Ihre Knochen klappern in ihren endlosen Sparringskämpfen, bei denen sie ihre tödlichen Künste verfeinern. Dann herrscht wieder völlige, lähmende Stille, wenn sie über das Vyrus meditieren, ihre ganze Konzentration darauf verwenden, dem Hunger zu widerstehen. Dann wieder das leise Rascheln ausgetrockneter Lippen und Zungen, wenn sie ihr Fasten brechen und löffelweise Blut schlürfen, um das Vyrus im Zaum zu halten.
Sie fasten nicht, weil sie den Hunger des Vyrus für unnatürlich halten. Sie beten das Vyrus damit an.
Das Vyrus ist nicht ihr Feind. Sie sind seine Jünger.
Wenn man ihnen gegenüber die Behauptung aufstellt, dass das Vyrus ein einfaches irdisches Virus ist, werden sie einem ins Gesicht lachen. Oder gleich den Kopf abreißen.
Ketzerei ist hier kein Kavaliersdelikt. Und die Behauptung, dass das Vyrus etwas anderes wäre als ein göttlicher Weg zur Erlösung, ist für diese Jungs hier pure Ketzerei.
Was sie mit der ganzen Hungerei letztendlich erreichen wollen, ist, wie das Vyrus zu werden. Sich nach und nach von ihm vereinnahmen zu lassen, bis es in ihr Fleisch und ihre Knochen gedrungen ist. Sie wollen, dass sie das Vyrus in etwas verwandelt, das in dieser Welt existieren kann, obwohl es nicht von dieser Welt ist.
Sie sind fanatisch bis zum Gehtnichtmehr. Sie warten auf den Ersten, der diese endgültige Verwandlung vollzieht, damit er es den anderen beibringen kann. Dann, so glauben sie, werden sie immun sein gegen die Sonnenstrahlen und alle Waffen dieser Welt. Und genau wie alle anderen Rechtgläubigen werden sie dann losziehen und jeden umbringen, der nicht so ist wie sie.
Abgefahrener Scheiß.
Ich bin noch nie so recht schlau daraus geworden.
Aus diesem Grund komme ich auch nicht so gerne vorbei.
Früher war ich hier willkommen. Der alte Chef der Truppe war fest davon überzeugt, dass ich einer von ihnen wäre und es nur noch nicht wüsste.
Aber dann starb er.
Daniel. Verrückter alter Mann.
Ich verbiete mir, an seinen Tod zu denken. Wie leicht sein Körper in meinen Händen war. Ich verbanne die Erinnerung in eine dunkle Ecke in meinem Kopf, wo ich alle die Dinge hinstopfe, an die ich mich nicht erinnern will. Und das sind inzwischen eine ganze Menge.
Ich tue das, um mich ganz auf die Enklave zu konzentrieren, denn schließlich will ich hier lebendig wieder rauskommen.
Die beiden, die mich begleitet haben, verschwinden, sobald sich die Schiebetür hinter uns schließt. Dunkelheit umfängt uns. Um mich herum kann ich sie atmen und meditieren hören. Andere grunzen leise, ihre Gliedmaßen zischen durch die Luft und prallen krachend aufeinander. Knochen splittern. Ich rieche den Geruch von verwesendem Fleisch und das ganz spezielle Aroma des hungernden Vyrus, das von ihnen ausgeht.
Dann passen sich meine Augen an die Lichtverhältnisse an, und ich bemerke die Kerzen, die im riesigen Raum verteilt sind. Ganz genau wie beim letzten Mal. Da war ich allerdings noch der Meinung, dass ich diesen Ort nie wieder sehen würde. Ich wollte ihn nämlich bei meinem nächsten Besuch bis auf die Grundmauern niederbrennen.
Aber wie so oft im Leben – aus den schönsten Plänen wird meist nichts.
Also bin ich zurück, und zwar ohne Fackel.
Um mein Mädchen wiederzusehen.
– Simon.
Ich beobachte, wie er aus den Schatten tritt. Er trägt weiß, wie der Rest der Enklave.
Ich nicke.
– Schöner Anzug.
Er bleibt zwei Meter vor mir stehen und betastet das Revers seines makellosen weißen Dreiteilers.
– Schon, oder?
Er wendet den Kopf, so dass er die Reihen von knienden, in tiefer Meditation versunkenen Enklavemitgliedern betrachten kann. Dahinter werden Sparringskämpfe ausgetragen. Immer wieder halten sie für einen Herzschlag inne, um die Verteidigung des Gegners zu beobachten und nach einer
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