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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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dem Norden der Stadt, der sich das Klavierspielen selbst beigebracht hatte. Zwar konnte er keine Noten lesen, aber wenn man ihm irgendeinLied vorsang, beherrschte er es sofort und virtuos.
    An diesem Abend trug er einen graubraunen Anzug, der nur ein bisschen heller war als seine Haut, dazu eine grauweiß gestreifte Weste. Seinen Krawattenschal zierte eine mit Juwelen besetzte Anstecknadel, die Sprenkel in allen Regenbogenfarben auf die cremeweiße Tapete warf. Er seufzte, doch als er mit flinken Fingern über die Tasten strich, war der Klang so fröhlich, als wollte er die ganze Welt erfüllen.
    Nicolette faltete die Hände vor sich und ließ Clarence das Intro von Alexander’s Ragtime Band beenden. Sophie Tucker selbst hatte das Lied in New Orleans gesungen. Nicolette war zu jung gewesen, um sie zu hören, aber wie Clarence sagte, zählte der Song zu Miss Tuckers Lieblingsliedern.
    Sie machte einen Schritt nach vorn und fing an. Die Herren unterhielten sich und beachteten sie zuerst gar nicht. Doch nachdem sie ein paar Zeilen gesungen hatte, hielt der bärtige Mann die Hand hoch, um seinen Freund zum Schweigen zu bringen, und drehte sich, um ihr zuzusehen.
    Sie hatte gern Publikum. Es war die einzige Gelegenheit, zu der sie sich sicher sein konnte, bemerkt zu werden. Sie sang lauter und klatschte im Rhythmus in die Hände. Als sie zum Part über den swanee river kam, hob sie die Hände in die Luft und schwenkte sie hin und her, wie sie es bei der Sängerin einer Blaskapelle gesehen hatte. Die Männer lachten und applaudierten. Auch die Frauen spendeten Beifall.
    Sie war vor Stolz errötet, als die Musik schließlich verstummte. Als Clarence mit dem nächsten Lied anfing, machte sie einen Knicks. Der Song war ein Tanz, Swipsey’s Catwalk , den Clarence lange vor Nicolettes Geburt auf einem Flussdampfer von einem Mann namens Joplin gelernt hatte. Sie hatte die Notenblätter einmal gesehen, und der Junge, der vorn abgebildet war, sah wie Tony Pete aus. Es war eines ihrer Lieblingslieder, aber es gab keinen Text. Vermutlich spielte Clarence das Lied deshalb. Sie legte ihn rein, indemsie stattdessen zu tanzen begann.
    Die Männer warfen ihr Münzen zu Füßen, und sie bückte sich, um alle aufzuheben. Als sie sich wieder aufrichtete, stand die Herzogin in der Tür, und ihr Vater war nur einen Schritt dahinter.
    Nicolette hütete sich davor, die Herzogin Hilfe suchend anzusehen. Sie würde es abstreiten, Nicolette die Erlaubnis gegeben zu haben, in den Salon zu kommen. Nicolette spielte kurz mit dem Gedanken, durch die andere Tür zu verschwinden, doch sie wusste, dass Mr Rafe sie irgendwann finden würde.
    Die Münzen in der Faust, ging sie zu den beiden. Die Herzogin trug ihr bestes Satinkleid, das leuchtend rot und mit dunkelroter Spitze verziert war. Ihr dunkles Haar war zu Korkenzieherlocken gedreht und hochgesteckt, sodass ihre Nase länger wirkte. Sie hatte Ohren, die besser aussahen, wenn sie von Haaren verdeckt waren, doch an diesem Abend waren sie nicht verdeckt – und das war das Einzige, worüber Nicolette sich freute.
    Die Herzogin trat zur Seite, und ihr Rock strich an der Wand entlang, als Nicolette an ihr vorbeiging. Nicolette wusste, dass ihr Vater nicht hier mit ihr reden würde. Er packte ihre Schulter und führte Nicolette durch die verwinkelten Flure zu ihrem Zimmer in der Nähe der Küche. Bedrohlich ragte er über ihr auf, und seine Finger schienen durch das Kleid hindurch auf ihrer Haut zu brennen.
    „Was hast du da drin gemacht?“, fragte er streng, als sie weit genug vom Salon entfernt waren, sodass man sie nicht mehr hören konnte.
    „Ich habe gesungen.“ Sie erzählte ihm nicht davon, Champagner serviert zu haben, und ganz sicher verlor sie kein Wort über den Kuss.
    „Wer hat dir gesagt, dass du dich im Salon aufhalten darfst?“
    „Niemand.“Sein Griff an ihrer Schulter verstärkte sich. „Wer?“
    Sie beschloss, einen Blick zu riskieren. „Die Herzogin“, sagte sie.
    „Lüg mich nicht an.“
    Sie presste die Lippen aufeinander. Im Augenblick sah sie keinen anderen Ausweg aus dieser Lage, als zu lügen. Und obwohl es ihr nichts ausmachte, zu schwindeln, fiel ihr niemand außer der Herzogin ein, den sie damit in Schwierigkeiten bringen wollte.
    „Irgendjemand hat dir beim Anziehen geholfen und dich in den Salon geschickt. Wer war es? Violet?“
    „Nein!“ Dieses Mal sah sie ihm in die Augen und vergaß einen Moment lang, dass sie eigentlich Angst vor ihm hatte. „Violet war

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