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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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den Klang der Trompeten hinweg hörte sie die tiefe Stimme. Sie drehte sich um und erblickte Henry Gerritsen, einen Freund von Sylvain. „Mr Gerritsen.“ Sie streckte ihre behandschuhte Hand aus. Er nahm sie und hielt sie nur einen Moment länger fest, als die Etikette es vorschrieb.
    „Sind Sie zufällig auch unterwegs zu den Winslows?“, fragte er.
    Sie brachte ihre Hand wieder in ihren Besitz. „Sie auch?“ Er neigte den Kopf. „Ich freue mich immer auf ihre Partys. Ihre Köchin ist eine der besten der ganzen Stadt.“
    Ihr fiel die Art auf, wie er sie anblickte. Sie hatte Henry Gerritsen nie für einen gut aussehenden Mann gehalten, obwohl es viele Frauen gab, die anders darüber dachten. Zum ersten Mal sah sie ihn allein. Für gewöhnlich hing eine verliebtejunge Dame der Gesellschaft an seinem Arm, eine Frau, die kurz davorstand, die Ehe einzugehen – mit jemand anders.
    Henry verfügte nicht über die nötigen Kontakte und war nicht wohlerzogen genug, um von den besten Familien von New Orleans als Schwiegersohn in Betracht gezogen zu werden. Doch selbst wenn die Töchter der Karnevalsgesellschaften Comus, Momus und Proteus ihn abwiesen, waren seine Aussichten noch immer hervorragend. Die gesellschaftliche Welt von New Orleans war wie die dobos tortes, die Dobostorten, die die Ungarn in die Stadt gebracht hatten: Es gab viele verschwenderisch süße Schichten unter der spröden goldenen Karamellglasur. Aurore wusste aus eigener Erfahrung, wie oberflächlich – und flüchtig – die Freuden waren, wenn man ganz oben war.
    Die Smoky Mary pfiff zweimal; das war das Signal für die Reisenden, sich in den Zug zu begeben. Die Bands stiegen in einen Wagen im hinteren Teil des Zuges ein, aber es war nicht der letzte Waggon. Der letzte Wagen blieb leer, wie Aurore wusste, und diente als rollendes Gefängnis für diejenigen, die den Frieden am See störten.
    „Warum setzen wir uns nicht zusammen in ein Abteil“, schlug Henry vor, „und lernen uns besser kennen?“
    Ihr fiel so schnell keine Ausrede ein, warum sie lieber allein sitzen wollte. Und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass ihr eine Ablenkung von den Gedanken an Nicolette durchaus willkommen war. Die Fahrt dauerte nicht lange, doch lange genug, um sich dem eigenen Unglück hinzugeben.
    Sie stieg in den Waggon und spürte, dass Henry ihr folgte. Zwar war er kein großer Mann, auch wenn er einen halben Kopf größer war als sie mit ihrem Hut, aber er hatte breite Schultern und war muskulös. In der Augusthitze fühlte sie sich von seiner Masse erstickt, irgendwie überwältigt, als wäre sie ein Rennen gelaufen und hätte vor der Ziellinie aufgeben müssen.
    Er nahm neben ihr Platz, und das Gefühl verstärkte sichnoch. Er strahlte eine gewisse Präsenz aus, eine spürbare Anziehungskraft, die einige Frauen sicher fesselnd fanden. Sein Haar war kupferbraun, und seine starken Augenbrauen waren eine Spur dunkler. Von der Sonne Louisianas hatte er einen warmen Teint bekommen.
    Seine Augen wirkten offen, ehrlich, freundlich – doch nichts, was sie über Henry Gerritsen wusste, ließ sie glauben, dass der Mann selbst all das war. Seine Firma stand in direkter Konkurrenz zu Gulf Coast: Gerritsen Barge Lines hatte die modernste Flotte von Schleppern im Hafen, und Henry selbst war, wie man sagte, der Grund für diesen Erfolg. Er schien einen sechsten Sinn für Entwicklungen und Trends zu haben, investierte Kapital, wenn andere Firmen sich lieber zurückhielten, und trennte sich von Verlustgeschäften, ehe sie sich an anderer Stelle auswirkten. Mehr als einmal hatte Gerritsen Barge Lines aufgrund von Henrys geschickten Schachzügen Gulf Coast ausgebootet. Es gab keinen Grund für Aurore, diesen Menschen zu mögen, aber sie hatte ihn oft um sein geschäftliches Können beneidet.
    „Fahren Sie oft an den See?“, fragte er, nachdem der Zug aus dem Bahnhof gerollt war.
    Sie nahm ihren Hut ab und legte ihn auf ihre Knie. „Nicht oft genug.“
    „Dann mögen Sie den Strand?“
    „Es ist eine nette Abwechslung zu den Uferdämmen am Fluss.“
    „Ich werde nicht selbst ins Wasser gehen. Ich kann nicht schwimmen.“
    „Nein? Was passiert, wenn Sie von einem Ihrer Kähne fallen?“
    „Ich stelle genügend Schecks aus. Einer meiner Angestellten würde mich sicherlich retten.“
    „Nicht wenn Sie ein so strenger Arbeitgeber sind, wie man erzählt.“Er lachte ein sehr männliches, sehr genussvolles Lachen. Der Klang berührte sie, denn plötzlich wurde

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