Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
Vom Netzwerk:
wann immer es leiser geworden war, war sie wieder eingeschlummert. In diesem Moment herrschte draußen vollkommene Stille. Dennoch setzte sie sich auf und schaute sich im Raum um. Sie war allein.
    Sie stand auf und suchte nach Clarence. Im vorderen Zimmer stand er neben einer ihr wohlbekannten Person. Sofort rannte sie auf ihren Vater zu, umarmte ihn und begann zu weinen.
    „Ganz ruhig, Nicolette.“ Er drückte sie fest an sich. „Es geht mir gut. Es geht uns allen gut.“
    „Ich will nach Hause.“ Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. „Oder ich will wenigstens, dass du hierbleibst!“
    „Ich werde dich nicht noch einmal verlassen. Wir warten ein paar Minuten ab, und wenn es so ruhig bleibt wie jetzt, gehen wir los.“
    „Du willst sie zurück nach Hause bringen?“, fragte Clarence.
    „Nein. Ich komme gerade von dort, und da ist es auch nicht sicher. Seit Mitternacht streiken die Straßenbahnen. Morgen bricht mit Sicherheit die Hölle los, wenn die Schwarzen auf dem Weg zur Arbeit durch die Wohngebiete der Weißen laufen müssen. Und trotzdem weigert der Bürgermeister sich, die Bürgerwehr einzuschalten. Ich habe alles getan, was ich konnte – auch wenn es nicht viel war. Jetzt muss ich an Nicolette denken. Wir verlassen die Stadt.“
    „Bis das hier vorbei ist?“
    „Nein. Für immer.“
    Nicolette zog an seinem Ärmel. „Aber ich will nicht für immer von hier weggehen. Ich will in Chicago bleiben. Mit Clarence.“
    „Nicolette, du musst mir vertrauen.“
    „Aber was ist mit Dolly? Was ist mit Clarence?“
    „Ich bringe dich an einen Ort, an dem wir endlich glücklich sein können.“ Er hockte sich vor sie und blickte ihr in die Augen. „Du musst mir einfach vertrauen. Ich will nur das Beste für dich“, murmelte er ihr auf Französisch zu. In New Orleans hatten sie manchmal französisch gesprochen, in Chicago allerdings nie. Dass er die Worte nun in dieser Sprachesagte, verlieh ihnen irgendwie mehr Gewicht. Nicolette war klar, dass er sich auf keine weitere Diskussion einlassen würde. Er strich ihr übers Haar, bevor er aufstand und flüsterte: „Je t’aime.“
    Anschließend wandte er sich an Clarence: „Du könntest mit uns kommen. Und so lange bei uns bleiben, bis es hier wieder sicher ist.“
    „Nee. Ich schätze, ich werde bleiben und mir das Ganze noch ein bisschen ansehen. Hab nie erlebt, dass schwarze Männer sich wehren. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Tag noch erlebe. Und falls ich beim Zusehen sterbe“, antwortete Clarence und grinste, „dann hat es sich gelohnt, dabei gewesen zu sein.“
    „Wie du willst. Aber sieh von hier drinnen aus zu.“ Rafe streckte ihm die Hand entgegen. „Du bist ein guter Freund. Ich werde dir schreiben und dich wissen lassen, wo wir sind, sobald wir uns dort eingerichtet haben.“
    Clarence ergriff seine Hand und schüttelte sie. „Nickelchen ist das Enkelkind, das ich nie gehabt habe. Ich würde alles für sie tun.“ Clarence zauste ihr das Haar. „Jetzt mach deinem Vater nicht das ganze Hemd nass. Ihr zwei macht euch besser auf den Weg, solange es draußen so ruhig ist.“
    „Ich gehe zuerst raus. Nicolette, du bleibst hier und wartest, bis ich dir ein Zeichen gebe. Dann kommst du nach.“
    Sie wollte nicht, dass ihr Vater sie zurückließ. Doch ihr blieb keine andere Wahl. Mit Clarences Händen auf ihren Schultern blieb sie stehen und beobachtete, wie Rafe die Tür öffnete und in die Dunkelheit hinausschlüpfte. Durch den Türspalt sah sie zu, wie er die Treppe hinunterstieg. Es war noch immer ganz still, als er die Pforte erreichte und sie leise aufmachte. Sie konnte ihn kaum noch erkennen, als er prüfend die Straße betrachtete. Ihr neuer Ford war einen halben Block von Clarences Wohnung entfernt geparkt und stand unter den tief herabhängenden Ästen einer gewaltigen Ulme.
    Rafe lief einige Schritte in die Richtung, hielt dann inne und bedeutete ihr, ihm zu folgen.
    „Bye.“ Sie gab Clarence einen Kuss auf die Wange. „Pass auf dich auf.“
    So leise wie möglich folgte sie ihrem Vater auf dem Weg, den er genommen hatte. Auf halbem Weg zur Pforte hörte sie plötzlich ein Geräusch und blieb stehen. Von irgendwo vernahm sie das gleichmäßige Brummen eines Motors. Sie blickte Hilfe suchend zu ihrem Vater, doch der winkte sie erneut zu sich. Beim Gartentor stolperte sie in der Dunkelheit, fing sich allerdings, bevor sie hinfiel. Als sie sich aufrichtete, konnte sie erkennen, wie sich ein Schatten langsam über die

Weitere Kostenlose Bücher