Bis zur letzten Luge
gehen zu können? Er schloss die Augen, und das tote Kind starrte ihn an.
8. KAPITEL
L ucien hatte gerade seinen Kaffee ausgetrunken, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Erschrocken drehte er sich um und erblickte den Mann, dessen Haus eingestürzt war. „Das Wasser hat schon fast die Veranda erreicht.“ Er deutete zur Tür. Lucien stand auf und ging zu den Männern, die sich dort versammelt hatten. Einige Zeit war vergangen, auch wenn er nicht genau sagen konnte, wie viel. Im Augenblick war die Zeit eine Frage von steigendem Wasser und stärker werdendem Wind. Er bemühte sich, dem schnellen Französisch der Männer zu folgen.
Ihre Beobachtungen überraschten ihn nicht. Der Sturm würde noch stärker werden. Der schlimmste Moment würde später kommen, wenn der Wind drehte und das Wasser, das die Insel bedeckte, zurück in den Golf strömte. Es würde mit sich reißen, was es konnte. Es gab einen Streit darüber, wie schlimm die Verwüstungen werden würden. Einige glaubten, dass sie in Sicherheit waren, solange das Wasser eine gewisse Höhe nicht überschritt. Andere waren der Ansicht, dass sie schon längst dem Untergang geweiht waren.
„Gibt es noch einen anderen, besseren Ort, an den wir gehen könnten?“, fragte Lucien.
Die Männer starrten ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Man kann nirgendwohin gehen – nur mitten in den Sturm.“ Mit einer knappen Geste unterstrich der Sprecher seine Worte. Die anderen Männer murmelten zustimmend.
„Und was ist, wenn es eine Flaute gibt?“, fragte Lucien. „Es wird auf jeden Fall eine Flaute geben – kurz bevor die Hölle losbricht.“
Ein anderer Mann schaltete sich ein. „Und dann? Kennen Sie die Absicht des Sturms? Wissen Sie, wo Sie in Sicherheit sind und wo nicht? Denn falls Sie es wissen, mon ami , könnten Sie es uns vielleicht verraten.“
„Ich weiß nichts. Ich bin von Ihnen abhängig“, erwiderte Lucien.
„Dann bleiben Sie hier, und helfen Sie uns dabei, alles dafür vorzubereiten, wenn das Wasser ins Haus dringt.“
Kurz darauf erklärte Lucien Marcelite den Plan und half ihr, die Kinder auf den Dachboden zu bringen. Sie machten es sich auf einer Patchworkdecke in der Ecke des Raumes gemütlich, die am weitesten vom Fenster entfernt war. Das Fenster war verriegelt worden, aber später würden sie es benutzen, um zu beobachten und einschätzen zu können, wie der Sturm sich entwickelte. Auf dem Dachboden vereinten sich das Prasseln des Regens und das Heulen und Dröhnen des Windes zu einer lauten, beängstigenden Melodie. Als die Kinder nach oben gebracht wurden, begannen sie zu weinen und klammerten sich an ihre Mütter.
Einer der Männer trug die bewusstlose Sophia nach oben und legte sie behutsam auf einen Teppich, den jemand anders für sie mitgebracht hatte. Ihr Mann kniete sich neben sie und wärmte ihre Hände. Angelle legte den Kopf an Marcelites Brust und hielt sich die Ohren zu. Raphael, der die Augen weit aufgerissen hatte und kein Wort sagte, saß ganz ruhig da, als hätte der Lärm von draußen ihn seiner Sprache und seiner Bewegung beraubt.
Man konnte von hier oben die Schreie der Menschen und das unaufhörliche Läuten der Kirchenglocke hören. Lucien dachte an diejenigen, die draußen im Sturm gefangen und auf der Suche nach einem Unterschlupf waren. Er hatte sich eingeredet, dass das Kind neben dem Boot Rosina gewesen war, Sophias Tochter. Ein Kind, von dem man wusste, dass es verloren war. Nur eines. Doch als er nun dem Lied des Teufels lauschte, wusste er, dass mehr Menschen gestorben waren und es noch weitere Opfer geben würde.
„Das Haus ist stabil gebaut“, versicherte er Marcelite. „Es hält dem Sturm stand. Wir sind sicher.“Ihre Lippen bewegten sich; er wusste, dass sie betete. Er ließ sie zurück und ging die Treppe hinunter. Die Männer wechselten sich dabei ab, durch einen kleinen, extra zu diesem Zweck freigelegten Spalt am Fenster den Sturm zu beobachten.
Viel zu schnell war er an der Reihe. Die Welt, die er durch die Öffnung erblickte, war nicht mehr die, die er noch vor Stunden verlassen hatte. Sein Boot trieb auf der Veranda. Sie waren eine Insel in einem reißenden Strom, und der Strom lebte. Er schloss die Augen, wollte all das, was im Wasser vorbeitrieb, nicht genauer sehen. Er machte einen Schritt zurück.
„Menschen sterben“, sagte einer der Männer. „Wir müssen helfen.“
Sie waren sich einig, dass sie tun mussten, was sie konnten. Jemand schlug vor, eine Lampe in
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