Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
Vom Netzwerk:
In der Ferne glaubte er, über das Dröhnen des Windes hinweg Schreie zu hören. Doch ein Geräusch war unverwechselbar. Die Kirchenglocke erklang laut und stetig, als würde sie die Menschen zu ihrer eigenen Totenmesse rufen.
    Beklommen zog er sich vor bis zur obersten Treppenstufe, um nach seinem Boot zu sehen. Er erblickte es im grellen Schein des nächsten Blitzes. Die Strömung hatte es gegen einen stabilen Pfeiler gedrückt, wo es im Moment sicher war. Aber jede Änderung der Windrichtung konnte es zerstören. Er wägte seine Sicherheit gegen die des Bootes ab. Ohne das Boot war er verloren, vollkommen hilflos.
    Hilflos! Zorn ergriff ihn, weil sein Leben nicht länger ihm gehörte. Marcelite und Antoine hatten sein Schicksal in der Hand. Und jetzt nahm dieser teuflische Sturm sich das, was noch von seiner Zukunft übrig war, und verdrehte es so, wie es ihm gefiel.
    Die Wut trieb ihn ins Wasser. An die Verandabrüstung geklammert, nahm er Stufe um Stufe nach unten, bis seine Füße den Boden berührten. Das Wasser reichte ihm weit über die Knie und war fürchterlich kalt. Dinge wirbelten in seinen Tiefen herum. Ein Baum wurde zu ihm geschwemmt, und er tauchte unter dem Stamm hindurch, damit er von dem schwerenHolz nicht gegen einen Stützpfeiler gedrückt wurde. Wieder an der Oberfläche, bemerkte er, dass die Strömung ihn schon am Boot vorbeigetragen hatte. Als er sich zurückgekämpft hatte, war er vollkommen erschöpft. Er warf seine Arme über das Heck, hielt sich fest und ließ sich treiben, bis er wieder etwas Kraft gesammelt hatte.
    Er glaubte, das Wasser unter sich steigen fühlen zu können. Wie konnte der Wasserstand so schnell anschwellen? Welche Kraft besaß dieser Sturm, dass er die Gezeiten wechseln und die Insel innerhalb von Stunden total überfluten konnte?
    Zum ersten Mal dachte er an Claire und Aurore – und an Monsieur Chighizolas Prophezeiung. War der Sturm auf der Grand Isle genauso schlimm? Das Cottage, in dem seine Familie wohnte, war eine alte Sklavenhütte, die gegen diese Art von Wind nie gesichert worden war. Hatte Claire den Mut gefunden, sich einen sicheren Unterschlupf zu suchen?
    Irgendetwas streifte seine Brust. Etwas Weiches, Nachgiebiges. Entsetzen erfasste ihn. Er konnte sich nicht überwinden nachzuschauen. Er betete, dass das Ding an ihm vorbeigespült werden würde. Doch was auch immer es war, es klemmte zwischen seinem Arm und dem Boot. Er versuchte sich um das Boot herumzuhangeln, aber das Ding schien ihm zu folgen. Schließlich zwang er sich, einen Blick zu wagen. Die Leiche eines Kindes – eines Mädchens, wie er anhand der Haarlänge vermutete – hatte sich am Bootsrumpf verhakt. Ein greller Blitz zuckte am Himmel, und er konnte die leeren Augen der Kleinen erkennen, die ihn anzustarren schienen. Übelkeit stieg in ihm auf. Er stieß sich vom Boot ab, und innerhalb von Sekunden hatte die Strömung die Kleine losgerissen und trug sie fort.
    Er wollte tief Luft holen, aber Wasser füllte seine Lunge. Er strampelte, als sich das Wasser über ihm schloss, doch noch während seine Panik wuchs, gelang es ihm, das Boot zu packen.Zentimeter für Zentimeter zog er sich zum Bug. Dann begann der Kampf, das Boot zur Veranda zu schleppen.
    Als er sich wieder ins Haus schleppte, stand das Wasser noch höher als ohnehin schon. Eine große Familie, die ebenfalls auf der Flucht vor dem Sturm war, hatte es bis ins Haus geschafft. Inzwischen waren fünfundzwanzig Menschen dort versammelt.
    Nachdem er im Sturm gewesen war, kam ihm das Haus beinahe still vor. Lucien blickte sich auf der Suche nach Marcelite und den Kindern im Wohnzimmer um. Er entdeckte sie in einer Ecke. Behutsam nahm er Angelle auf den Arm, um sie an seiner Brust zu wiegen. Sie war warm und schaute ihn mit ihren runden Augen neugierig an. Doch er sah nur das tote Kind neben dem Boot. Irgendwann ertrug er es nicht länger, sie anzublicken, und schlug die Augen nieder. Raphael beobachtete ihn.
    Für den Jungen empfand er nichts mehr außer Mitleid. Er sah zu Marcelite und erkannte zum ersten Mal die Kraft, die ihr geholfen hatte, diese Schande zu überleben. Sie gab niemals auf. Heute Nacht würde sie kämpfen, damit ihre Familie überlebte. Bis zum letzten Atemzug würde sie kämpfen.
    Sie erhob sich. „Ich hole dir eine Tasse Kaffee. Ich habe dir einen Rest aufbewahrt.“
    Er blickte ihr hinterher. Sie war genauso ein Teil von ihm wie die Träume, die er jede Nacht hatte. Wie hatte er glauben können, einfach so

Weitere Kostenlose Bücher