Bis zur letzten Luge
Akkordeon. Geigen waren nichts Außergewöhnliches, doch ein Akkordeon, ein Instrument, das einem schlichten Tanzlied die schmerzlichsten Emotionen entlocken konnte, wurde für ein Wunderwerk gehalten.
Wie jedes wohlerzogene Mädchen ihrer Zeit hatte Aurore die Klassiker kennengelernt. Auf dem Steinway ihres Vaters –dem Flügel, der in der Woche, in der Tante Lydia beschloss, dass ihre musikalische Ausbildung beginnen sollte, aus New York eingeschifft worden war – konnte sie einige von Chopins Etüden spielen und mehr als die Hälfte der Lieder ohne Worte von Mendelssohn Bartholdy. Diese Musik hatte allerdings nichts gemein mit der Mischung aus Dixieland, Jazz und traditioneller Musik, die die Spasm Bands mit Pfeifen, Tröten und Zigarrenkisten-Fiedeln manchmal vor Theatern oder Kneipen in New Orleans zum Besten gaben.
Die Geiger brachten nicht nur die Saiten an ihren Instrumenten zum Klingen, sondern auch im Innern der Zuhörer. Und der Mann am Akkordeon, ein gut aussehender junger Schwerenöter mit melancholischem Blick, sang bewegende Lieder auf Französisch. Lieder, die von Jahrhunderten der Unterdrückung handelten, von den Lieben, die man hatte zurücklassen müssen, und von Familien, die durch das Exil für immer von Neuschottland getrennt waren.
„Mögen Sie unsere Lieder?“
Aurore drehte sich um und erblickte Étienne, der hinter ihr stand. „Ich hoffe, sie sind nicht alle so traurig.“
„Nicht alle. Aber als ein Volk möchten wir das Unrecht nicht vergessen, das uns angetan wurde.“
Er klang so ernst, dass sie ihn fragen musste: „Warum nicht? Worin liegt der Sinn, in der Vergangenheit zu leben?“
„Die Vergangenheit hat uns stark gemacht. Als wir an die Bayous zogen, hatten wir nichts, und jetzt gehört uns das Land hier. Die Deutschen, die Spanier, die Amerikaner kamen, um die Bayous für sich zu beanspruchen. Doch wir machten binnen kürzester Zeit Cajuns aus ihnen.“
„Also verdanken Sie Ihre Kraft und Stärke dem Unglück? Dann müssen Sie als Mensch stärker sein als so manch anderer, Étienne.“
„Stärker?“ Er zuckte die Achseln. „Entschlossener? Oui.“ „Entschlossener, was zu tun?“
„Meinen Platz in der Welt zu finden.“
Sie dachte darüber und über diese außergewöhnliche Unterhaltung nach. Sicherlich hatte Étiennes Vergangenheit sein Bedürfnis beeinflusst, sich in der Welt durchzusetzen. Aber sie war überrascht, dass er es laut zugegeben hatte. Ihrer Erfahrung nach gaben Männer nur selten zu, überhaupt Gefühle zu haben.
„Und wo ist dieser Platz?“, fragte sie.
„Nicht hier.“
Sie fragte sich, warum. Doch ehe sie es herausfinden konnte, sah sie, dass Minette ihr von der anderen Seite des Zimmers aus Zeichen gab. Offenbar verstieß es gegen die Etikette, sich dort mit Étienne zu unterhalten, wo die Männer sich versammelten.
Aurore ging um die freie Fläche herum, die jetzt die Tanzfläche war, und kam gerade rechtzeitig zum Hochzeitswalzer auf der anderen Seite an. Ti’Boo, die nervös, aber dennoch entschlossen wirkte, schritt durch das Zimmer, ihren Angetrauten fest an der Hand. Die Familie folgte den beiden. Als der Marsch vorbei war, spielte die kleine Band einen Walzer. Die Tanzfläche leerte sich, und Ti’Boo und Jules mussten allein tanzen.
„Es ist eine perfekte Hochzeit“, lächelte Minette, die sich neben Aurore gestellt hatte. „Aber meine wird noch perfekter.“
Aurore sah zu, wie Ti’Boo eng an Jules’ Brust geschmiegt über die Tanzfläche wirbelte. Ti’Boo hatte immer älter gewirkt, als sie eigentlich war, und auch jetzt schien sie trotz der zehn Jahre Altersunterschied Jules’ ebenbürtige Partnerin zu sein. Er sah sie liebevoll an, und Aurore verspürte so etwas wie Erleichterung. „Ich denke, sie werden glücklich“, sagte sie. „Er liebt sie.“
„Ich glaube, das war schon immer so. Ich glaube, er wollte Ti’Boo schon heiraten, als er jung war. Doch er war zu alt für sie und hätte viel zu lange warten müssen, bis mein Papa seinEinverständnis gegeben hätte.“
„Tatsächlich?“
Minette kicherte; der Klang ihres Lachens war noch höher, als wenn man mit einem Silberlöffel gegen ein Kristallglas schlug. „Macht es denn einen Unterschied?“
„Ach, du siehst in allem nur die romantische Seite.“
„Ich habe gesehen, wie du mit Étienne Terrebonne gesprochen hast. Er genießt einen gewissen Ruf.“
„Ist das so?“
„Er ist ein Kämpfer. Man sagt, dass es im Umkreis von einhundertfünfzig
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