Bis zur letzten Luge
Kilometern keinen Mann gibt, der wie Étienne kämpfen kann.“
Aurore versuchte, aus Minettes Tonfall zu schließen, ob das etwas Gutes war oder nicht. Es war noch nicht besonders lange her, dass heißblütige Herren aus New Orleans sich regelmäßig der Ehre wegen unter den gewaltigen Virginia-Eichen des Stadtparks duelliert hatten. Sie fragte sich, ob es bei Étienne auch um die Ehre ging, wenn er kämpfte. Vielleicht war es ein Weg, um wettzumachen, was ihm in seinem Leben fehlte.
„Man erzählt sich, dass er einem Mann das Ohr abgeschnitten haben soll, als der seinen Vater beleidigt hat“, sagte Minette.
„Das glaube ich nicht.“ Aurore sah in die Runde und entdeckte Étienne. Er stand in einer Gruppe von Männern, aber trotzdem in etwas Abstand zu den anderen. Ob die Männer aus Respekt oder aus Angst Abstand zu ihm hielten, konnte sie nicht sagen. „Mir kommt er wie ein sehr netter Mann vor.“ Sie suchte nach einem passenderen Ausdruck. „Verständnisvoll.“
„Ich werde dir noch etwas sagen. Er ist gebildet, auch wenn er vom anderen Ende des Bayou Lafourche kommt. Seine Mutter ist von den Nonnen in Donaldsonville unterrichtet worden und war dann selbst Lehrerin, ehe sie geheiratet hat. Man sagt, dass sie ihm alles beigebracht hat, was siewusste – allerdings immer nur dann, wenn ihr Mann entweder weg war oder seinen Rausch ausgeschlafen hat. Faustin ist nicht der Meinung, dass ein Mann lesen sollte.“
„Was für ein Jammer.“
„Étienne ist der bestaussehende Mann hier, findest du nicht?“
Die Frage konnte Aurore nicht so leicht beantworten. Gut aussehend war so ungenau! Die Gesichtszüge anderer Männer waren vielleicht kultivierter, französischer. Doch sollte sie Étienne daran messen – oder daran, was ihr selbst gefiel? „Er ist hübsch anzusehen“, entgegnete sie.
„Ich denke, er könnte eine Frau in seinen Armen halten und in ihr die Leidenschaft wecken.“
„Es war nicht Étiennes Gesicht, das du im Brunnen gesehen hast, oder?“
„ Mais non . Leider nicht.“ Minette klang allerdings nicht besonders traurig darüber. Sie klang jung und sehr zufrieden mit sich selbst.
Aurore verspürte eine Welle der Zuneigung. „Dann zeig mir doch deinen Auserwählten.“
Sie murmelte zustimmend, als Minette auf den Jungen deutete, den sie für ihren Zukünftigen hielt. Dann bemitleidete sie sie, als weitere Paare zu Ti’Boo und Jules auf die Tanzfläche gingen und Minettes heimliche Liebe ein anderes Mädchen aufforderte. Schließlich sah sie zu, wie Minette in den Armen eines Onkels auf die Tanzfläche gezogen wurde.
„Darf ich um diesen Walzer bitten?“
Sie war so damit beschäftigt gewesen, Minette zu beruhigen, dass es sie völlig überraschte, als Étienne plötzlich vor ihr stand. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Tanz so beherrsche, wie Sie ihn tanzen“, warnte sie ihn. „Die Musik und die Schritte sind ein bisschen anders.“
„Sie werden es schnell lernen.“
Sie ergriff seine Hand. Seine Finger waren rau, ruhig undwarm. Es war die Hand eines Mannes, der hart arbeitete und dabei nichts von seiner Selbstachtung verlor. Er hielt sie in einem angemessenen Abstand in seinen Armen und führte sie langsam im Takt der Musik durch den Raum. An ihrer Taille fühlte sich seine Hand noch wärmer an. Von Angesicht zu Angesicht konnte sie nun ergründen, was sie an ihm so anziehend fand. Sie kam zu dem Schluss, dass es seine Augen waren. Sie waren dunkel wie eine Winternacht, in der selbst das gelegentliche Funkeln eines Sternes ein Zeichen der Hoffnung war.
„Haben Sie tatsächlich einem Mann das Ohr abgeschnitten?“, fragte sie unvermittelt.
Étienne lächelte sie an. Sie hatte das Gefühl, dass bei diesem Lächeln etwas in ihr sich mit ihm zu verbinden schien. Etwas in ihrem Innern hatte reagiert, und es war ein angenehmes Gefühl. „Sie haben also schon gemerkt, wie Geschichten hier aufgebauscht werden“, entgegnete er.
„War diese Geschichte denn … aufgebauscht?“
„Ah, oui . Es war nur ein Teil seines Ohres.“
Sie stolperte, fing sich aber wieder. „Welcher Teil?“
„Der Teil, den er nicht braucht. Den Teil, mit dem er hört, habe ich an seinem Kopf gelassen.“
Gegen ihren Willen musste sie lachen. „Darf ich fragen, warum?“
„Warum ich es getan habe? Oder warum ich nicht noch mehr abgeschnitten habe?“
Die Musik verstummte. Sie standen zusammen und warteten auf das nächste Lied. „Warum kämpfen Sie überhaupt? Gibt es keine besseren
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