Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bisduvergisst

Bisduvergisst

Titel: Bisduvergisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
Vom Netzwerk:
eine Waffe, ein Wunder, der Führer holt uns raus aus der Misere. Auch wenn er uns vorher hineingetrieben hat, nicht wahr, Lisa? Ich habe kein Wort laut gesagt, aber du siehst mich erschrocken an. So weit ist es gekommen, dass wir Gedanken lesen. Tut es weh, fragst du, und ich nicke. Ich habe Fieber, aber ich bin robust. Ich schaffe das, Lisa. Du hast mir das Leben gerettet, ich will mich nicht beklagen.
    Es regnet, manchmal reißen die Wolken auf. Dann beleuchtet die Sonne unser Schicksal. Das Schicksal der Menschen im Zug, denen die Kraft ausgegangen ist. Die nur noch weitermachen, um nicht verrückt zu werden. Oder weil es einfach lächerlich wäre, jetzt aufzugeben. Nach all den Jahren, in denen sie uns die Gedanken im Kopf zurechtgeschnitten haben, nach den Jahren, in denen wir keine Menschen waren. Aber bald, bald werden wir wieder welche sein. Ich schaue aus dem verschmierten Fenster hinaus in die Wolken. Jemand gibt mir Wasser zu trinken. Ich bin ganz heiß. Ist nicht wichtig. Nur noch ein paar Tage, zwei Wochen, wenn überhaupt. Dann sind sie hier. Dann fallen keine Bomben mehr, und die Schergen haben ausgespielt. Dann haben wir keine Feinde mehr.
    Du legst deine schöne, kühle Hand auf meine Stirn und ich lehne mich sachte an dich. Verkehrte Welt, Lisa, denn immer habe ich dich gehalten. Bisher.
    Gute zehn Kilometer vor Landshut müssen wir aussteigen. Der Bahnhof ist in der Nacht bombardiert worden. Die Gleise ragen senkrecht in die Luft. Ein Kartoffelfuhrwerk nimmt uns mit bis Vilshofen, und ich schlafe auf den Erdäpfeln ein.
    Es ist später Abend, als wir in Aidenbach ankommen. Zum Lager müssen wir zu Fuß gehen. Wenigstens regnet es nicht mehr. Ich schwanke, du reichst mir deinen Arm. So taumeln wir in der Dunkelheit durch das Wäldchen und lauschen angstvoll dem Singen der Zweige und dem Rascheln und Knistern all der Wesen um uns. Die Augen gewöhnen sich an das Schwarz. Manchmal reißen die Wolken auf, dann fallen Mondstrahlen aus dem Himmel. Im aufgeweichten Boden sinken unsere Füße ein. Fester und fester klammern wir uns aneinander, und um uns tanzt mit kaltem Lachen die Angst. Sollen wir reden, Lisa, nur um die Angst zu vertreiben? Aber ein Wort, eine Silbe, nur ein Ächzen, das über die Lippen gleitet, steigert die Furcht. Deswegen sagst du nichts, und ich auch nicht, und wir gehen weiter, bis wir die Abzweigung erreichen, wo es links zum Dorf geht und geradeaus weiter zu unseren Baracken.
    Dauert nicht mehr lange, Lisa, will ich flüstern, da zerreißt dein Schrei die Nachtstille. Ich fahre zusammen, so laut schrillt deine Stimme in meinen halb tauben Ohren.
    Links von uns, gleich bei der Weggabelung, in der mächtigen Rotbuche, die zaghaft ihr erstes Laub vorzeigt, baumelt ein Mann. Ein Soldat.
    Tot.
    Du beginnst zu hecheln, panisch, ganz schnell, in einem unbarmherzigen Rhythmus, der auf mich überspringt. Ich reiße mich von dir los.
    Lass, Lisa, der Soldat ist tot.
    Dein Führer ist es, der solche Leute erzeugt hat. Nicht solche wie diesen jungen Kerl, der ist nicht mal 20, der hatte noch einen Hauch Vernunft im Leib. Den Instinkt des Tieres, das flieht, wenn der Gegner übermächtig ist. Nein, der Führer hat Mörder erzeugt, Lisa, millionenfach. Im Wind baumelt der tote Körper zwischen den Ästen, dreht sich hin und her. Ganz sacht. Nein, friedlich sieht er nicht aus. Die Zunge hängt ihm aus dem Mund. Er ist im vollen Bewusstsein des Entsetzens gestorben. Er hat es nicht geschafft. Aber ich lebe noch, weißt du, Lisa, und ich will weiterleben, die Entzündung in meinem Arm loswerden und mich in meinen Amerikaner verlieben, und deswegen gehe ich jetzt einfach weiter, auf diesem Weg, ob du hier stehst oder nicht und entgeistert auf die Leiche glotzt. Dem hilfst du nicht mehr, Lisa, nimm Vernunft an.
    Du löst deinen Blick von dem Toten und siehst mich an. Vergiss es, Lisa, ich habe ihn nicht aufgeknüpft. Ich nicht. Du nickst, dein Gesicht ist bleich im Mondlicht, bleich von der Erschöpfung, dem Schlafmangel, dem Schock.
    Lass uns von hier fortgehen, Lisa!
    Wir laufen nun hintereinander, ich voraus, ich spüre deinen Atem in meinem Genick, manchmal berührst du meine Schultern, nun haben wir wieder die alten Rollen eingenommen. Ich, die Robuste, die Dunkle, ich gehe voraus, tue furchtlos, ohne es zu sein, aber wer interessiert sich dafür, was tief drinnen passiert. Das Fieber ist weg, beinahe. Ich fühle mich nicht mehr heiß, die kühle Nachtluft sorgt dafür, ein bisschen weich

Weitere Kostenlose Bücher