Bismarck 01
Gerechtigkeit. Und wenn umgekehrt der Neid der Vielzuvielen sich ärgert: warum bin ich nicht groß und frei wie dieser, ist das nicht ungleiche Verteilung der Lebensgüter? Glücklicherweise richtet sich der Neid fast immer nur auf Äußerliches, auf materiellen Erfolg, die »Größe« der ellenhohen Socken, und kennt nicht die Wahrheit: Du bleibst doch immer, was du bist. Da nun der äußere Erfolg von hundert Zufälligkeiten abhängig und hinter den Höhen der tiefe, donnernde Fall lauert, so gibt's hier nichts zu beneiden. Das Steigen zu den sogenannten Spitzen der Gesellschaft ist eine unsichere Alpenfexerei, wobei man leicht ausgleitet und in den Abgrund stürzt. »Denn die Größe ist gefährlich und der Ruhm ein eitles Spiel.« Wollte aber der Neid sich gegen das wirklich Beneidenswerte wenden und geistige Schöpferkraft als unerlaubte Bevorzugung anklagen, woneben alle Mittelmäßigen sich ungerechter Zurücksetzung bewußt wären, so ahnen sie sogar nur unvollkommen den hohen Selbstgenuß des Schaffenden, ahnen dafür aber erst recht nicht die ungeheure Arbeitslast, die Widerwärtigkeiten, das dumpfe Leid, die mit jedem Schaffen verbunden.
Und was schaffe ich denn? Nichts oder so wenig in meiner abhängigen Stellung. Dem König habe ich ja unter vier Augen bekannt, daß ich nie freiwillig, nur auf ausdrücklichen Befehl nach Wien gehen könne, wo man mich hinterrücks überlisten und mein Ansehen untergraben würde. Der König nannte diesen Posten eine Hochschule meiner diplomatischen Laufbahn und verlangte Dank dafür, daß er mich ausbilde. Auch als Minister würde ich nur ein Ei sein, das die Henne brütet, und das widerstrebt meiner Selbstachtung. Verantwortung seiner Selbstherrlichkeit jähen Launenwechsel zu decken, fiele mir um so schwerer, als seine unregelmäßige Sprunghaftigkeit im Arbeiten oder Liegenlassen sich mit solcher Beeinflußbarkeit seiner Stimmung durch jeden geschickten Intriganten paart. Selbst mein edler, ernster Prinz Wilhelm, auf den ich so viel Hoffnungen setze, wenn auch nicht gerade für mich, denn mit seiner Frau Gemahlin und seiner Umgebung habe ich's nun mal verdorben – selbst er ist den Einflüsterungen der Unberufenen zugänglich. Die Hintertreppenschleichereider Goltz, Bethmann-Hollweg, Pourtalés träufelt Gift auf alle Dielen. Nun, laß sehen, ob es mit Hannover ginge. Da könnte man einen wichtigen Mittelstaat in die richtige deutsche Sache hineinbugsieren und so Preußen fördern.
In Hannover empfing ihn der Minister Bacmeister: »Ich trat soeben aus dem Ministerium Schele aus, habe daher ganz freie Hand, Sie – sagen wir einmal – zu sondieren. Sind Sie geneigt, bei uns einzutreten?«
»Nur unter einer Bedingung: daß König Georg sich völlig an Preußen anschließt. Mein Preußenrock ist mir auf dem Leibe festgewachsen, und ich kann ihn nicht ausziehen.«
»Hm, so. Jedenfalls wünschen Seine Majestät mit Ihnen zu konferieren. Er will aber, daß eine geheime Unterredung nicht bekannt werde. Sie werden ihn im Erdgeschoß des Schlosses treffen. Ich werde Sie hinführen.«
Der blinde König saß in einem kleinen Kabinett. Er sah peinlich darauf, daß die Fiktion aufrechterhalten wurde, er sehe ganz gut. Er begann mit hoher, heller Stimme: »Ich verfolge mit Befriedigung Ihre Bestrebungen gegen den gotteslästerlichen Geist der Revolution. Die mir oktroyierte Verfassung bedrückt mich und hemmt den Flug meiner landesväterlichen Fürsorge. Ein Fürst von Gottes Gnaden läßt sich nicht Vorschriften von der Krapüle machen. Ich berief Sie zu mir, um Ihren Rat zu hören, wie man durch Bundestagsbeschluß eine Verfassung revidieren kann.« Otto gab sich dazu her, auf dieses Ansinnen einzugehen, wobei er ausweichend Mäßigung empfahl. »Fixieren Sie das bitte schriftlich, und zwar sogleich.« Die Niederschrift dauerte lange, und der König verriet seine Ungeduld. Plötzlich schlug es 6 Uhr, er sprang erschreckt auf, denn um 5 Uhr hatte er Tafel. Er verschwendete kein Wort an den Gesandten, der sich herbemüht hatte, lief in sein Schlafzimmer und ließ Otto allein, der sich allein in den Schloßgängen zurechtfinden mußte. Als ein Lakai ihm den Weg vertrat, antwortete er mit schneller Geistesgegenwart englisch, und vor dieser Zaubersprache verneigte sich der Lakai bis zur Erde, ein Brite geht ein und aus, wie er will.
Der König verlangte aber eine fernere Unterredung in einem größeren Audienzsaal, den Tisch bedeckten alle möglichen Papiere, die jeder
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