Bismarck 04
verbrämten ihren unnatürlichen Germanenverrat mit jener Heuchelei, die ihnen gleichfalls vererbt im Blute sitzt. Wie die Angeln, deren Thane Harold bei Hastings im Stiche ließen, erst durch Normanen zur Staatszucht erzogen, so konnte nur Preußen die Deutschen zur strengen Genossenschaft aufrütteln, das Geheul wider Verpreußung ist Diebsfinte. Harte Notwendigkeit wird Einheit aller Germanenrassen erzwingen gegen slavisch-mongolische Weltgefahr. Die Arier – Inder, Gräkolateiner, Germanen – sind Individualisten, gerade weil sie Kulturelles auf höchste Stufe brachten, daher im Gegensatz zu Chamberlains falschen Begriffen viel unbegabter für straffes Staatsbilden. Bloße Staatsbevormundung gründet nicht Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern Besinnen auf Individuelles. Eine Rolle, wie sie zum Heil Italiens der anrüchige Annunzio und der ehemalige Maurer Mussolini spielten, weil man ihre geistige Potenz vorurteilslos wertete, wäre bei uns undenkbar. Den Philisterhohn »verkanntes Genie«, wenn Genie sich nicht materiell durchsetzt, kennt kein anderes Volk. Wenn Frankreich ganz Europa in Blut taucht, so schaufelt es doch nie seinen eigenen Größen ein Grab, huldigte stets dem Pathos der Distanz im Respekt vor Geisteswerten. Der Deutsche kennt nur Schulmeisterbildung. Daß objektive deutsche Gründlichkeit eine Chimäre, zeigt schon die ungründliche Parteiwut, mit der deutsche Stradfordier und Baconier sich wechselseitig des epidemischen Wahnsinns bezichtigen, etwa so als ob die einen leugneten, daß die Erde sich um die Sonne dreht, die anderen unterschieben, sie drehe sich um den Mond, d. h. eine Unmöglichkeit durch die andere ersetzen. Jede Verstocktheit bleibt geheiligt, sobald professorale Outsider über Hochgeistiges schwatzen. Weil nur die Germanen Erben der Hellenen, konnte englische Ästhetik den Homer als Großmeister statt Vergil und Ovid einführen, doch der deutschen Schule fehlt noch heut jede wahre Beziehung zum uns viel wichtigeren Nibelungenlied.
Der geniale Strindberg sieht im Schulwesen die Wurzel alles Übels. Wilhelms in dieser Richtung gesunder Instinkt gegen den Gymnasialhumanismus schnappte wie gewöhnlich nach erstem Anlauf ab. Gerade wie die gutgemeinte Sozialreform später in brutales Scharfschießenwollen bei einem Streik ausklang: »Mindestens 500 müssen auf der Strecke bleiben!« (Zedlitz). Und das soll »einer der edelsten Menschen« gewesen sein? Wen betrügt man hier? Nachdem selbst die Konservativen ihn aufgaben, rief die oft maßlose Anschwärzung des Nieschweigers jüngst einen Verteidiger in die Front, der »Schuld und Schicksal« bei ihm abwägt. Wenn mans so hört, möcht's leidlich scheinen und steht doch ziemlich schlecht darum. Wenn Ludwig Kohns Wilhelmbuch, der gleichzeitig über so Entgegengesetzte wie Napoleon und Bismarck sein geistreiches Geseires stilvoll mauschelte, antimonarchisch geifert, so bindet eine anonyme Broschüre über Wilhelms Tragik geradeso unwahr die Maske der Objektivität vor, ein Meisterwerk von Mohrenwäsche mit einigem Richtigen. Unser eigener Aufruhr gegen »die verrückte Zwiebel«, welches Kosewort ein anscheinend inspiriertes Buch dem Kronprinzen in den Mund legt, richtet sich nicht gegen den Privatmenschen, sondern den umschmeichelten Cäsarenaffen, der noch heute in sentimentalen Illusionen schwärmt. Vergleiche das läppische Interview mit Sylvester Viereck über seine zweite Heirat, ebenso unbedeutend wie anmaßlich. Wenn er vielleicht den besten Willen hatte, so mischte sich seiner lauten Vaterlandsliebe so viel heimliche Dynasteneinbildung, daß schwer zu unterscheiden, wo krasse Selbstsucht aufhörte und Vaterlandsgefühl anfing. Seine Eitelkeit, sich in alle Kunstdinge einzumischen und mit falschen historischen Zitaten um sich zu werfen, entsprach seiner mangelhaften Bildung, ganz im Bann der üblichen Drillkultur, die zu durchschauen seine Oberflächlichkeit ihm versagte. Er versicherte Jules Simon weihevoll: »Sie haben heute große Autoren, z. B. Ohnet«, worauf Simon geantwortet haben will: »Ganz Frankreich würde über Ihr Urteil lachen.« Das einstige Versailler Vorbild dieses Ohnetverehrers mit Geschmack einer Ladenmamsell fragte mal Boileau: »Wer von meinen Dichtern wird meiner Regierung den meisten Glanz verleihen?« Schon diese Frage verblüfft ein deutsches Lakaiengemüt. »Moliere? Das wußte ich nicht, doch Sie verstehen das besser als ich.« Als ob Wilhelm je etwas nicht besser gewußt hätte als
Weitere Kostenlose Bücher