Bis(s) 1 - Bis(s) zum Morgengrauen
… oder Freesien. Da läuft einem das Wasser im Mund zusammen.«
»Genau – was wäre mein Tag, ohne dass mir jemand sagt, wie schmackhaft ich wieder rieche.«
Er lachte in sich hinein, und dann seufzte er.
»Ich weiß jetzt, was ich will«, sagte ich ihm. »Ich möchte mehr über dich wissen.«
»Frag mich alles, was dir einfällt.«
Ich ging meine Fragen durch und suchte die dringlichste heraus. »Warum das alles? Ich versteh immer noch nicht, wie du so hartnäckig versuchen kannst, dich dagegen zu wehren, was du … bist . Versteh mich nicht falsch – ich bin froh, dass du es tust. Ich kapier nur nicht, warum.«
Er zögerte, bevor er antwortete. »Gute Frage. Du bist nicht die Erste, die sie stellt. Die anderen – also die meisten unserer Artgenossen, die voll und ganz zufrieden sind mit ihrer Bestimmung – wollen auch immer wissen, wie wir so leben können. Aber, ich meine – nur weil man ein bestimmtes Los zugeteilt bekommt, muss man sich doch nicht damit abfinden. Kann ich mich denn nicht darüber erheben und die Grenzen des Schicksals ausweiten, das ich mir nicht selbst ausgesucht hab? Warum soll ich denn nicht versuchen, meine menschlichen Wesensarten, so schwach ausgeprägt sie auch sein mögen, zu erhalten?«
Reglos und stumm vor Ehrfurcht lag ich da.
»Bist du eingeschlafen?«, fragte er nach einer Weile.
»Nein.«
»Ist das alles, was du wissen wolltest?«
Ich verdrehte die Augen. »Nicht ganz.«
»Und, was noch?«
»Wie kommt es, dass du Gedanken lesen kannst … und die anderen nicht? Und dass Alice die Zukunft voraussehen kann?«
Ich fühlte ihn an meiner Seite mit den Schultern zucken. »Wir wissen es nicht genau. Carlisle hat so eine Theorie. Er meint, dass wir alle unsere stärksten menschlichen Eigenschaften mit uns in das andere Leben nehmen, wo sie dann noch intensiviert werden. Demnach war ich schon vorher sehr sensibel für die Gedanken der Leute um mich herum. Und Alice, wo auch immer sie lebte, hatte bereits präkognitive Fähigkeiten.«
»Was hat Carlisle mitgebracht, und die anderen?«
»Bei Carlisle ist es das Mitgefühl, bei Esme die Fähigkeit, leidenschaftlich zu lieben. Emmett hat seine Kraft mitgebracht, Rosalie ihre … Beharrlichkeit. Oder auch Sturheit, wie man mag.« Er schmunzelte. »Jasper ist ein interessanter Fall. Er war schon in seinem ersten Leben ziemlich charismatisch und konnte andere dazu bringen, Dinge mit seinen Augen zu sehen. Heute ist er fähig, einen Raum voller wütender Leute zu beruhigen oder, umgekehrt, eine lethargische Menge zu stimulieren. Ein ausgesprochen raffiniertes Talent.«
Es war nicht leicht, die märchenhaften Dinge zu begreifen, die er mir offenbarte. Gedankenverloren lag ich da, während er geduldig wartete.
»Aber – wie hat das denn alles angefangen? Ich meine, Carlisle hat dich verwandelt, also muss ihn auch jemand verwandelt haben und so weiter …«
»Das könnte ich dich genauso fragen: Wo kommst du her? Evolution? Göttliche Schöpfung? Wäre es nicht möglich, dass wir uns wie andere Arten auch, also wie alle Raub- und alle Beutetiere, über lange Zeiträume entwickelt haben? Oder, falls du nicht glaubst, dass die ganze Welt von allein entstanden sein soll, was mir auch nicht leichtfällt – ist es dann so schwer vorstellbar, dass dieselbe Macht, die farbige Engelfische und Haie erschuf, Babyrobben und Killerwale – dass diese Macht auch unsere beiden Arten gemeinsam erschaffen konnte?«
»Moment mal – ich bin die Babyrobbe, hab ich das richtig verstanden?«
»Ja.« Er lachte, und etwas berührte meine Haare – seine Lippen?
Ich wollte mich zu ihm umdrehen, wollte wissen, ob es wirklich seine Lippen waren, doch ich riss mich zusammen; ich wollte es nicht noch schwerer für ihn machen, als es ohnehin schon war.
»Meinst du, du kannst jetzt schlafen?«, fragte er in das kurze Schweigen hinein. »Oder hast du noch mehr Fragen?«
»Höchstens ein oder zwei Millionen.«
»Es gibt noch morgen und übermorgen und überübermorgen …«, erinnerte er mich. Ich lächelte – was für ein schöner Gedanke!
»Ich kann mich darauf verlassen, dass du morgen früh nicht verschwunden bist?« Was das betraf, wollte ich auf Nummer sicher gehen. »Schließlich bist du ein Mythos.«
»Ich verlasse dich nicht.« Und in seiner Stimme lag dasselbe Versprechen wie in seinen Worten.
»Dann nur noch eine für heute …«, begann ich und wurde rot. Da half auch die Dunkelheit nichts – ich war mir sicher, dass
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