Bis(s) 1 - Bis(s) zum Morgengrauen
nicht länger vor mir herzuschieben, doch ich tat es mit Unwillen.
Erstens musste ich mir darüber klarwerden, ob es stimmen konnte, was Jacob über die Cullens gesagt hatte.
Sofort protestierte mein Intellekt laut und deutlich dagegen, die Möglichkeit überhaupt nur zu erwägen – es war dumm und morbide, solchen lächerlichen Gedanken nachzugehen. Andererseits gab es keine vernünftige Erklärung dafür, dass ich noch am Leben war. Einmal mehr ging ich in Gedanken alles durch, was ich selbst beobachtet hatte: die übermenschliche Geschwindigkeit und Stärke, die wechselnde Augenfarbe – von Schwarz zu Gold und wieder zurück. Die unglaubliche Schönheit, die blasse, kalte Haut. Und dann die kleinen Sachen, die mir erst nach und nach aufgefallen waren – dass sie nie zu essen schienen oder die unheimliche Anmut ihrer Bewegungen. Und die Art, wie sich Edward manchmal ausdrückte – so gewählt, dass es eher in einen Fin-de-Siècle-Roman passte als in ein Klassenzimmer des 21 . Jahrhunderts. An dem Tag, als wir unsere Blutgruppen bestimmen sollten, war er nicht zum Unterricht gekommen, und den Strandausflug hatte er erst abgesagt, als er hörte, wohin wir wollten. Er schien die Gedanken aller Leute in seiner Umgebung lesen zu können … außer meine. Er hatte mir gesagt, dass er gefährlich war …
War es möglich, dass die Cullens Vampire waren?
Irgendwie anders waren sie jedenfalls, das stand fest. Irgendwas, das den Rahmen rationaler Erklärungen sprengte, spielte sich vor meinen ungläubigen Augen ab. Ob nun eines von Jacobs kalten Wesen oder ein Superheld, Edward Cullen war jedenfalls kein … Mensch. Er war mehr als das.
Die Antwort lautete also: Vielleicht. Das musste für den Augenblick genügen.
Was mich zur wichtigsten Frage überhaupt brachte: Was, wenn es so war?
Wenn Edward – und alles in mir sträubte sich dagegen, es auch nur in Gedanken zu formulieren – ein Vampir war, was sollte ich dann tun? Jemanden einzuweihen, kam definitiv nicht in Frage. Ich glaubte es mir ja nicht einmal selber; jeder, dem ich es erzählte, würde mich augenblicklich einweisen lassen.
Es gab anscheinend nur zwei praktikable Möglichkeiten. Die eine bestand darin, seinen Rat zu befolgen: klug zu sein und ihm so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Unsere Verabredung abzusagen und mir alle Mühe zu geben, ihn zu ignorieren, genau wie am Anfang. So zu tun, als befände sich zwischen uns eine undurchdringliche dicke Glaswand, wenn wir eine Stunde am Tag gezwungen waren nebeneinanderzusitzen. Ihm zu sagen, er solle mich in Ruhe lassen – und es dieses Mal ernst zu meinen.
Bei dem bloßen Gedanken daran durchfuhr mich heftigste Verzweiflung, und ich wandte meine Aufmerksamkeit schnellstens der zweiten Möglichkeit zu.
Ich konnte genauso weitermachen wie bisher. Selbst wenn etwas … Böses in ihm war – mir hatte er bisher nichts getan. Im Gegenteil, hätte er nicht so schnell gehandelt, wäre ich jetzt bloß noch eine Delle in Tylers Kotflügel. So schnell gehandelt, überlegte ich, dass es wahrscheinlich purer Reflex gewesen war. Wenn es aber einer seiner Reflexe war, Leben zu retten, wie böse konnte er dann sein? Mein Kopf schwirrte vor Fragen, auf die ich keine Antwort hatte.
Wenn es irgendetwas gab, dessen ich mir sicher war, dann das: Der finstere Edward in meinem Traum war ein Abbild meiner Angst vor dem Wort, das Jacob gebraucht hatte, nicht aber vor Edward selber. Und trotz dieser Angst war es nicht die Sorge um den Wolf gewesen, die mich entsetzt »nein« schreien ließ, sondern die Befürchtung, dass ihm etwas zustoßen könnte. Selbst als er mich mit spitzen Fangzähnen zu sich rief, fürchtete ich noch für sein Leben.
Und damit, das war klar, hatte ich meine Antwort. Ich wusste nicht, ob es überhaupt eine wirkliche Wahl gegeben hatte – ich steckte schon viel zu tief drin. Jetzt, da ich Bescheid wusste – falls ich Bescheid wusste –, gab es nichts, was ich mit meinem schaurigen Geheimnis anfangen konnte. Denn wenn ich an ihn dachte, an seine Stimme, seinen hypnotischen Blick, seine fast magnetische Anziehungskraft, sein ganzes Wesen, dann wollte ich nichts mehr als sofort bei ihm sein. Selbst wenn … Doch ich brachte es nicht fertig, das zu denken. Nicht, während ich allein im Wald war, der sich immer mehr verdunkelte. Nicht, während der Regen plätscherte, als trippelte jemand über den von Flechten bedeckten Erdboden. Nicht, während sich die Taghelle unter dem
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