Biss der Wölfin: Roman
so laut ich konnte, in der Hoffnung, Noah wäre in der Nähe. Natürlich war er es nicht. Längst über alle Berge, da war ich mir sicher.
Ich hatte mich zum zweiten Mal in einer einzigen Nacht geopfert, um einem Stillwell die Flucht zu ermöglichen, und obwohl ich mit der Tatsache, dass ich es für Noah getan hatte, besser zurechtkam, hätte ich mich trotzdem in den Hintern treten können. Aber so idiotisch es mir in diesem Moment auch vorkam, dies war es, was es bedeutete, Alpha zu sein – die Sorte, die Jeremy war, und die Sorte, die zu sein ich von mir selbst erwartete. Es bedeutete die Bereitschaft, sich für die Rudelbrüder zu opfern, die ihrerseits vorher noch versuchen würden, das Gleiche für einen selbst zu tun. Unglückseligerweise galt Letzteres nicht für Joey und Noah, und so war ich auf mich allein gestellt.
Doch einen Trick hatte ich noch in Reserve – meinen Größten und Besten.
Ich studierte den Wald ringsum mit einem langen Blick, um sicherzustellen, dass ich wirklich allein war. Dann drückte ich mich dichter an den Baum, damit das Seil lockerer wurde. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Wandlung. Dafür musste ich meine Aufmerksamkeit vollkommen auf meinen Körper verlagern. Das war der Moment, in dem mir aufging, wie kalt mir war. Ich konnte meine Hände nicht spüren, konnte meine Füße, Ohren, Nase, mein Kinn nicht spüren. Der Wind pfiff durch mein dünnes T-Shirt und die Jeans, und ich schauderte, bis ich nichts mehr tun konnte außer zu schaudern; mein Zähne klapperten, und das Geräusch erfüllte die Stille.
Ein leises Wimmern stieg aus meinen Eingeweiden auf. Es war so kalt, so verdammt kalt. Die Finger begannen mir zu erfrieren, und wenn ich mich nicht bald aufwärmen konnte, wenn ich die Finger nicht wenigstens in den Achselhöhlen auftauen konnte …
Dann wandel dich halt, verdammt noch mal. Hör auf zu winseln und wandel dich!
Ich stolperte auf meinen gefesselten, bestrumpften Füßen, als ich versuchte, mich um den Baum herum zu arbeiten, um wenigstens aus dem Wind zu kommen. Aber so viel Spielraum ließ mir das Seil nicht, und ein Stamm von zwanzig Zentimeter Durchmesser gab einen miserablen Windschutz ab.
Ich versuchte mich wieder auf die Wandlung zu konzentrieren, aber sie wollte nicht einsetzen. Ich konnte mich nicht mal entspannen. Es war zu kalt, zu gotterbärmlich kalt.
Und was, wenn ich mich wandelte und mich dann nicht befreien konnte? Waren meine Handgelenke wirklich dicker als meine Vorderbeine? Vielleicht schnitt ich mir selbst die Blutzufuhr ab, wenn die Stricke sich durch Pelz und Haut schneiden würden?
Hör auf nachzudenken und wandel dich. Wenn das Seil zu straff ist, kannst du’s durchnagen.
Ich konzentrierte mich, aber sosehr ich mich auch abmühte, es gelang mir einfach nicht. Ich war zerschrammt, zerschlagen und erschöpft. Ich war verzweifelt darauf angewiesen, mich zu wandeln, und genau dieses Wissen machte es mir unmöglich, mich hinreichend zu entspannen, um damit anzufangen.
Ich versuchte, mich in ein inneres Heiligtum zurückzuziehen, und glaubte, es geschafft zu haben, als das Knacken eines Zweigs in einiger Entfernung mich hochfahren ließ – ich wusste viel zu gut, dass hier draußen Geschöpfe unterwegs waren, vom Winter ausgehungerte Wesen, und dass ich wehrlos war und nach Blut stinken musste.
Aber sosehr ich mich auch abmühte, zu sehen und zu lauschen, ich entdeckte nichts. Ich kehrte in mein inneres Asyl zurück. Dann vibrierte der Baum in meinem Rücken, und meine Lider flogen wieder nach oben.
Der Baum zitterte. Ich bin mir sicher, der Boden tat es ebenfalls – ich konnte es mit meinen tauben Füßen nur nicht spüren.
Etwas bewegte sich durch den Wald. Etwas Großes.
Während ich die Luft einsog, dachte ich an Teslers Worte: Es ist neugierig – schnüffelt dauernd hier rum. So viel wusste ich selbst auch schon – was es auch war, das sich in diesen Wäldern herumtrieb, es war neugierig, und es war gefährlich. Und wenn es ein anderes Raubtier – eins, von dem es schon einmal angegriffen worden war –, wehrlos an einen Baum gebunden, antraf …
Als ich das nächste Mal einatmete, fing ich ganz schwach den Gestank nach wildem Tier auf. Dann erhob sich in einiger Entfernung eine riesige Gestalt. Der massige Kopf wiegte sich hin und her. Ein nasses Schnüffelgeräusch durchschnitt die Stille, als es die Luft prüfte, bevor es sich wieder auf alle viere fallen ließ; die Erschütterung, die
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