Biss der Wölfin: Roman
den Anzug. Er war nackt, aber in seinem Fall … sagen wir einfach, er hatte eine Menge Haare da, wo Männer in aller Regel Haare haben, insofern war seine Nacktheit nicht wirklich ein Problem.
Er kam mir etwas kleiner vor, als er in seiner Tiergestalt gewesen war – wenig über zwei Meter groß. Er hatte zottiges Haar und einen dichten Bart, generell ein beliebter Stil bei Leuten, die in der Wildnis leben. Wäre jemand ihm in den Wäldern begegnet – immer vorausgesetzt, er lief nicht gewohnheitsmäßig nackt herum –, dann wäre er demjenigen einfach vorgekommen wie die Sorte Mann, die den größten Teil ihres Lebens dort verbrachte und nur in die Stadt fuhr, wenn es unbedingt nötig war.
Er hatte die klassischen Gesichtszüge des Neandertalers – dicke Augenbrauenwülste und eine fliehende Stirn, eine große Nase und wahrscheinlich auch ein fliehendes Kinn, obwohl Letzteres unter dem Bart verborgen blieb. Ganz allgemein tat das Haar viel dazu, um die weniger eleganten Züge seines Gesichts zu verdecken. Trotz seiner Größe wirkte er eher vierschrötig, wuchtig und muskulös mit kurzen Beinen und Unterarmen. Irgendetwas von der Anpassung des Neandertalers an das kalte Klima schoss mir durch den Kopf – einer dieser Fetzen Hochschulwissen, die man sich seinerzeit so angestrengt eingeprägt hat, dass man sie nie wieder ganz vergisst.
»Du kommst mit uns«, sagte er.
Seine Stimme war barsch, fast wie ein Knurren, und er sprach in dem ganz leicht stockenden Tonfall eines Menschen, für den Englisch nicht die Muttersprache ist. Als er dann wieder sprach, glaubte ich zunächst, es sei ein Wort in seiner eigenen Sprache – ein gebellter Befehl an die anderen. Dann ging mir auf, dass es ganz einfach ein Bellen war, zwei schnelle gutturale Laute mit einer Betonung, als seien sie Sprache.
Die beiden anderen Erwachsenen verstanden ihn – sie grunzten und nickten. Der Jüngste reagierte nicht. Der Alpha richtete den Blick auf ihn und sagte etwas, das klang wie »Eli«. Der Junge knurrte eine widerwillige Zustimmung.
Der Alpha ging in die Hocke und wandelte sich in seine Tiergestalt zurück, so schnell und mühelos, dass ich vor Neid seufzte. Ich nehme an, die längere und schmerzhaftere Wandlung ist der Preis, den wir dafür bezahlen, dass wir vollständiger zwischen der menschlichen und der wölfischen Gestalt hin und her wechseln.
Als der Alpha fertig war, sah ich ihn mit neuen Augen. Mir wurde klar, dass das, was ich für bärenartige Züge gehalten hatte, in Wirklichkeit menschliche Züge waren – die Gestalt, der längere Pelz, der runde Kopf, die Mühelosigkeit, mit der er auf zwei Beinen stand und ging. Sie wandelten sich nicht in ein Mischwesen aus Wolf und Bär, sondern in eins aus Wolf und Mensch.
Einer der Älteren stieß mich kräftig in die Flanke, um mir mitzuteilen, ich sollte mich in Bewegung setzen. Ich schloss mich dem Alpha an.
34 Respekt
W as mir auffiel, als ich so von allen Seiten umzingelt dahinhumpelte, war die Stille des Waldes. Wenn ich in Wolfsgestalt rennen ging, dann war ich daran gewöhnt, dass mir kleinere Geschöpfe aus dem Weg gingen – vor allem dann, wenn ich mir keine Mühe gab, leise zu sein. Aber darüber hinaus konnte ich unweigerlich hören, riechen und manchmal auch sehen, was tief im Wald lebte. Bei diesen Geschöpfen schien sich der leere Raum ringsum zu erstrecken, so weit Geruchs- und Hörsinn reichten. Es war, als hätte jedes andere Wesen das Donnern ihrer Pfoten gehört, »Oh, Scheiße!« geschrien und sich schleunigst in Sicherheit gebracht.
Als Wolf war ich das, was die Schakale in der afrikanischen Savanne waren – Beutetiere machten einen Bogen um mich, Raubtiere nahmen mich zur Kenntnis. Diese Geschöpfe waren die Löwen – alles andere, groß und klein, machte Platz, wenn sie kamen.
Der Alpha führte uns auf einen der Hügel zu, die in der Wildnis verstreut lagen. Zunächst schnitt er eine Spur durch unberührten Schnee, aber als wir tiefer in den Wald kamen, stießen wir auf einen ausgetretenen Pfad zwischen den Bäumen hindurch, die so dicht standen, dass wir uns unter den hängenden Zweigen ducken mussten. Wir stießen auf einen kahlen, verschneiten Felshang und begannen zu klettern. Irgendwann verschwand der Alpha hinter etwas, das aussah wie eine solide Felswand. Ich folgte ihm und fand mich vor dem verborgenen Eingang einer Höhle wieder.
Es fiel kaum Licht ins Innere. Selbst meine gute Nachtsicht war hier nutzlos. Aber als ich
Weitere Kostenlose Bücher