Biss der Wölfin: Roman
erwarteten. Die Frage des Kidnappings war ihm vollkommen egal – das war eine geschäftliche Angelegenheit gewesen. Aber Exponate stehlen? So etwas ärgerte ihn. Sie hatten sich schließlich auf einen Kompromiss geeinigt. Karl durfte nach wie vor aus Museen stehlen, aber nur Schmuck und nur die Sorte, die in ihrer Eigenschaft als historisches Glitzerzeug ausgestellt wurde und keinen archäologischen Wert besaß.
»Kannst du feststellen, was sich Dennis hier drin angesehen hat?«, fragte ich.
»Alles, so wie es aussieht. Die Spur geht durch den ganzen Raum, und zwar mehr als einmal. Aber die Witterung ist hier besonders stark.«
Ich sah mir die Sammlung von Zeichnungen und Zeitungsartikeln an. »Wendigo-Psychose? Hast du vor ein paar Jahren nicht mal einen Aufsatz darüber geschrieben?«
»Mhm.«
»Vielleicht hat Jeremy es erwähnt, und dann war Dennis hier im Museum, hat das da gesehen und ist geblieben, um es sich näher anzusehen.«
Der Wendigo gehört zu den populäreren und bekannteren Elementen der Ureinwohner-Folklore im nördlichen Amerika. Während besonders harter Winter, so glaubt man, können böse Geister Menschen in Besitz nehmen und sie in Bestien verwandeln, die nach Menschenfleisch gieren. Das hört sich sehr nach menschenfressenden Werwölfen an, womit Clays Interesse wohl erklärt wäre. Allerdings hört es sich zugleich auch wie eine Erklärung für Kannibalismus an – während außergewöhnlich langer und harter Winter siegt der Überlebenswille über kulturelle Tabus. Fragen Sie die Angehörigen der Donner-Gruppe.
Und das ist der Grund, warum die Wendigo- Psychose Clay sogar noch mehr interessiert. Es handelt sich dabei um eine psychische Störung, die Menschen offenbar dazu veranlasst, eine Gier nach menschlichem Fleisch zu entwickeln, auch wenn andere Nahrungsmittel verfügbar sind. Hier sind die Parallelen zu Werwölfen ebenfalls offenkundig. Die Frage ist, ob Leute mit Wendigo-Psychose Werwölfe sind, Menschen mit einer unabhängigen psychischen Störung oder Menschen mit Resten von Werwolfblut.
»Ich werde Jeremy fragen, ob er meinen Artikel erwähnt hat«, sagte Clay. »Wenn nicht – denk dran, wir haben drei halb aufgefressene menschliche Leichen draußen im Wald liegen. Dennis muss von ihnen gehört haben und außerdem der Ansicht gewesen sein, er und Joey wären die einzigen Werwölfe in der Gegend hier. Und die beiden waren’s mit Sicherheit nicht.«
»Dann könnte er also nach einer anderen Erklärung gesucht haben. Jedenfalls war Dennis vor mindestens einer Woche hier; das bedeutet, sein Besuch scheint nicht direkt etwas mit diesen Mutts zu tun zu haben.«
Clay nickte.
»Und die Mutts haben vielleicht nichts mit seinem Verschwinden zu tun.«
Wieder ein Nicken.
»Oder wenn doch, dann bedeutet sein Verschwinden wahrscheinlich, dass sie bei ihm die gleichen Terrormethoden angewandt haben wie bei Reese. Dennis und Joey kommen mir nicht vor wie die Sorte, die bleibt und ihr Territorium verteidigt.«
»Sind sie auch nicht«, sagte Clay, während er mir mit einer Handbewegung mitteilte, dass wir gehen sollten. »Aber sie hätten Jeremy Bescheid sagen sollen. Ja sicher, sie gehören nicht zum Rudel, also können sie technisch gesehen kein Territorium beanspruchen. Aber wir hätten ihnen trotzdem geholfen.«
»Aber hätten sie Bescheid gesagt? Oder hätten sie sich lieber einfach davongemacht, um der Konfrontation aus dem Weg zu gehen?«
»Dennis würde gehen. Er ist …« Er ließ den Satz verklingen, und ich wusste, er suchte nach einem milderen Begriff für Feigling. »Trotzdem, ob er Auseinandersetzungen jetzt mag oder nicht, das hier ist sein Zuhause.«
»Vielleicht ist er nicht abgehauen. Vielleicht ist er wirklich in seiner Hütte eingeschneit, wie der Hausverwalter meint.«
Als wir ins Freie traten, überprüfte ich mein Handy auf Nachrichten.
»Der ruft nicht zurück«, sagte Clay.
Ich hatte bereits begonnen, das Gleiche zu vermuten. Der junge Hausverwalter war mir hilfsbereit vorgekommen – erfrischend hilfsbereit; ich war eher daran gewöhnt, mit Leuten wie Mallory Hirsch zu tun zu haben. Doch genau wie Reese konnte ich nicht anders, als angesichts der Freundlichkeit fremder Leute misstrauisch zu werden. Vielleicht mauerte Charles auf seine eigene Art nicht weniger als Hirsch – versprach uns eine Adresse, einfach damit wir gingen und ihn in Frieden ließen.
Wir bogen um die Ecke und suchten uns einen Weg an der Baustelle vorbei, auf der gerade ein
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