Biss sagt mehr als tausend Worte
sitze ich nun also und warte darauf, dass meine kleine Schwester Ronnie aus der Schule kommt, damit sie mich ermorden und meine Leiche unterm Bett verstecken kann, bis ich als wahre Gebieterin über die Finsternis der San Francisco Bay wiederkehren kann. Dieses ist mein letzter Eintrag als Sterbliche. Ich muss nur noch ein hübsches Ensemble für mein Ableben finden.
Wie sie es wohl machen wird? Hauptsache, es tut nicht weh. Anderenfalls wird meine erste Tat als Untote sein, meiner kleinen Schwester eine Flasche Kloreiniger über den Schädel zu kippen.
14
Der Samurai der Jackson Street II
Katusumi Okata lebte mittlerweile seit vierzig Jahren unter den Gaijin. Ein amerikanischer Kunsthändler, der auf der Suche nach Holzschnitten aus der Edo-Zeit Hokkaido durchstreifte, war in die Werkstatt von Katusumis Vater gekommen, hatte die Drucke des Jungen gesehen und angeboten, ihn mit nach San Francisco zu nehmen, wo Okata Holzschnitte für seine Galerie an der Jackson Street anfertigen sollte. Seither lebte der Grafiker in derselben Kellerwohnung. Einmal hatte er eine Frau – Yuriko – gehabt, doch sie war ermordet worden, als er dreiundzwanzig war, auf offener Straße, direkt vor seinen Augen, und so lebte er nun allein.
Auf dem Betonfußboden der Wohnung lagen zwei Grasmatten. Katusumi hatte einen Tisch für sein Werkzeug, einen zweiflammigen Herd, einen elektrischen Wasserkessel, seine Schwerter, einen Futon, drei Garnituren Kleidung, einen alten Plattenspieler und nun noch eine verbrannte weiße Frau. Sie passte nicht wirklich zu irgendwas, egal, wie er sie arrangierte.
Er wollte Holzschnitte von ihr anfertigen, indem er ihr schwarzes Gerippe wie einen gespenstischen Dämon aus einem shintoistischen Albtraum in Pose setzte, doch die Komposition stimmte nicht. Er lief nach Chinatown, kaufte
einen Strauß roter Tulpen und legte ihn neben sie auf den Futon, doch trotz der Farbe und des Arrangements funktionierte das Bild noch immer nicht. Und außerdem roch sein Futon nach verbrannten Haaren.
Okata war Gesellschaft nicht gewöhnt, und er wusste nicht genau, wie man Konversation trieb. Einmal hatte er sich mit zwei Ratten angefreundet, die aus einem Loch in der Mauer gekommen waren. Er hatte sich mit ihnen unterhalten, sie gefüttert und ihnen das Versprechen abgenommen, dass sie keine Freunde mitbrachten, doch sie hatten nicht auf ihn gehört, und irgendwann sah er sich gezwungen, das Loch zuzumörteln. Er vermutete, dass sie kein Japanisch verstanden.
Fairerweise musste man jedoch einräumen, dass auch die verbrannte Frau nicht eben gesprächig war – wie sie so dalag wie eine Moorleiche, eingelegt in Kreosot, der Mund weit aufgerissen wie zu einem Todesschrei. Er saß auf einem Hocker neben dem Futon, mit Zeichenblock und Bleistift, und fing an, sie für einen Holzschnitt zu skizzieren. Die rote Lockenpracht, die über ihren Rücken wallte, hatte er schon bewundert, als er ihr auf der Straße begegnete, und es tat ihm in der Seele weh, dass alle ihre Haare – bis auf ein paar Strähnen – in der Sonne verbrannt waren. Es war eine Schande. Vielleicht konnte er ihr trotzdem rote Locken zeichnen. Die den aufgerissenen Mund umspielten wie eine Woge von Hokusai.
Selbstverständlich wusste er, was sie war. Noch immer heilten die Verletzungen von seinem Zusammenstoß mit den Vampirkatzen, und er musste nicht viel skizzieren, um die Details hinzuzufügen, besonders da ihre Vampirzähne
nicht zu übersehen und viel zu lang und spitz waren, als dass sie einem normalen, verbrannten, weißen Mädchen gehören konnten. Er zeichnete drei Blätter voller Skizzen, experimentierte mit Perspektive und Komposition, doch beim vierten Blatt merkte er, wie ihn eine Trauer überkam, die sich nicht mit Skizzen vertreiben ließ.
Katusumi nahm das Wakizashi-Schwert vom Ständer auf der Werkbank, zog es aus der Scheide und fiel vor dem Futon auf die Knie. Er verneigte sich tief, dann setzte er die Spitze der Klinge an den Ballen seines linken Daumens und stach zu. Er hielt den Daumen über ihren offenen Mund, und das dunkle Blut tropfte ihr auf Lippen und Zähne.
Würde sie wie die Katzen sein? Wild? Ein Ungeheuer? Er hielt das rasiermesserscharfe Wakizashi in der rechten Hand bereit für den Fall, dass ein Dämon erwachte. Doch wenn er seine geliebte Yuriko hätte auferstehen lassen können, selbst als Dämon, hätte er es nicht auch getan? Die vielen Jahre, die vergangen waren, das Kendo-Training, das Zeichnen,
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