BIS(S) ZUM ERSTEN SONNENSTRAHL
meinte.
»Bleib in den Bäumen und folg mir von oben, okay?«, sagte er.
»Okay.«
Er machte sich schnell auf den Weg zurück zum Blockhaus. Ich folgte ihm in den Baumwipfeln, deren Zweige meist so dicht beieinander waren, dass ich nur selten wirklich von einem Baum zum anderen springen musste. Ich versuchte, so vorsichtig wie möglich voranzukomen in der Hoffnung, dass das Nachgeben der Äste unter meinem Gewicht wie Wind aussehen würde. Die Nacht war böig, das konnte hilfreich sein. Es war kalt, dafür dass Sommer war. Nicht, dass mich die Temperatur kümmerte.
Vor dem Haus fand Diego Rileys Geruch problemlos und folgte ihm schnell in großen Sätzen, während ich mehrere Meter hinter ihm und ungefähr hundert Meter nördlich, etwas weiter oben am Abhang als er, hinterherjagte. Wenn die Bäume sehr dicht standen, rüttelte er dann und wann an einem Stamm, damit ich seine Spur nicht verlor.
Nur ungefähr eine Viertelstunde lang ging es so, Diego rannte und ich flog als personifiziertes Eichhörnchen hinterher, dann merkte ich, wie Diego langsamer wurde. Wir mussten in Rileys Nähe sein. Ich stieg höher in die Äste auf der Suche nach einem Baum mit guter Aussicht. Ich kletterte auf einen, der über die umstehenden Bäume hinausragte, und betrachtete aufmerksam die Umgebung.
Weniger als achthundert Meter entfernt befand sich eine große Lücke zwischen den Bäumen, eine etwa einen Hektar große freie Fläche. Ungefähr in der Mitte der Lichtung, etwas näher an den Bäumen an seiner Ostseite, stand etwas, das aussah wie ein überdimensioniertes Lebkuchenhaus. Es war leuchtend rosa, grün und weiß gestrichen und mit pompösen Verzierungen an jeder erdenklichen Ecke so überladen, dass es schon fast lächerlich wirkte. In einer entspannteren Situation hätte ich darüber gelacht.
Riley war nirgendwo zu sehen, aber Diego hatte da unten jetzt ganz angehalten, daher nahm ich an, dass das der Endpunkt unserer Verfolgungsjagd war. Vielleicht war dies das Ersatzhaus, das Riley für den Fall vorbereitete, dass das große Blockhaus zerstört wurde. Allerdings war es kleiner als alle anderen Häuser, in denen wir bisher gewohnt hatten, und es sah nicht so aus, als ob es einen Keller hätte. Außerdem war es sogar noch weiter von Seattle entfernt als das letzte.
Diego schaute zu mir hoch und ich winkte ihn zu mir heran. Er nickte und folgte seiner Spur ein Stück zurück. Dann machte er einen riesigen Satz - ich fragte mich, ob ich es geschafft hätte, so hoch zu springen, obwohl ich so jung und stark war - und erwischte einen Ast ungefähr auf halber Höhe des nächstgelegenen Baums. Nur jemand, der extrem aufmerksam war, hätte bemerkt, dass Diego seinen Weg verlassen hatte. Trotzdem sprang er noch ein bisschen in den Baumkronen hin und her, um sicherzustellen, dass seine Spur nicht direkt zu mir führte.
Als er schließlich beschlossen hatte, dass es sicher sei, zu mir zu kommen, nahm er gleich meine Hand. Ich machte schweigend eine Kopfbewegung zu dem Lebkuchenhaus hin. Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben.
Gemeinsam schlichen wir uns hoch oben in den Bäumen an die Ostseite des Hauses an. Wir näherten uns, so weit wir uns heran wagten - ein paar Bäume zwischen dem Haus und uns mussten als Deckung dienen -, dann saßen wir schweigend da und lauschten.
Der Wind schien auf unserer Seite zu sein, er ließ nach, so dass wir etwas hören konnten. Ein eigenartiges leises Reiben und Klicken. Erst erkannte ich die Geräusche nicht, aber dann verzog Diego seinen Mund erneut zu einem kleinen Lächeln, schürzte die Lippen und küsste lautlos zwischen uns in die Luft.
Küsse zwischen Vampiren klangen nicht so wie bei Menschen. Es gab keine weichen, prallen, mit Flüssigkeit gefüllten Lippen, die man aneinanderpressen konnte. Nur solche aus Stein, ohne Elastizität. Und obwohl ich selbst schon gehört hatte, wie ein Kuss zwischen Vampiren klang - als Diego letzte Nacht meine Lippen berührt hatte -, hätte ich nie die Verbindung gezogen. Es war so weit von dem entfernt, was ich hier zu finden erwartet hatte.
Das schien alles, was ich bisher gedacht hatte, über den Haufen zu werfen. Ich war mir zwar sicher gewesen, dass Riley sich mit
ihr
treffen wollte - ob er Anweisungen entgegennehmen oder ihr Neuzugänge bringen wollte, wusste ich nicht -, aber ich hätte nie gedacht, hier auf eine Art... Liebesnest zu stoßen. Wie konnte Riley
sie
küssen? Ich schauderte und warf Diego einen Blick zu. Er sah ebenfalls
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