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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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schmale alte Flussarm durch eine verräterische Ebene aus Schlamm windet. Hier gibt es einen nicht asphaltierten Damm zur anderen Seite, der in jedem Frühjahr vom Hochwasser weggespült und jeden Sommer neu errichtet wird. Die Kosten dafür teilen sich mein Großvater und die Ölgesellschaft, die mehrere Pumpen auf der Insel betreibt. Der Fluss ist hoch für die Jahreszeit, und das aufgestaute Wasser plätschert gegen die Oberkante des Damms. Es fehlen nicht viel mehr als ein paar Zentimeter, um ihn zu überspülen.
    Zwanzig Minuten lang habe ich am Ende des Damms im Wagen gesessen und überlegt, ob es sicher ist, ihn zuüberqueren. Im Verlauf der letzten Stunde haben sich von Süden her dunkle Gewitterwolken genähert. Wenn ein Sturm losbricht und genügend Regen mit sich bringt, könnte der Damm unter den steigenden Fluten verschwinden. Es wäre nicht das erste Mal.
    Ich bin die siebzig Meilen bis hierher in einem Zustand der Trance gefahren, mit dem einzigen Ziel, diesen Ort zu erreichen, wo mein Vater so viel Zeit verbracht hat, und irgendwie diese tragischen Mysterien seines und meines Lebens zu lösen. Ich hatte noch genügend Verstand, um Sean zweimal anzurufen, doch er hat nicht geantwortet. Was bedeutet, dass er bei seiner Frau ist. Wäre er bei einem Meeting der Sonderkommission oder sogar an einem neuen Tatort gewesen, hätte er mir zumindest eine sms zurückgeschickt. Also … der Vater meines Babys versucht so gut wie sicher, seine Ehe zu retten.
    Nachdem ich Sean nicht erreichen konnte, spürte ich den unwiderstehlichen Zwang, mit Nathan Malik zu reden. Ich rief auf seinem Handy an, wurde jedoch mit seiner Mailbox verbunden. Ich wollte zuerst eine Nachricht hinterlassen, tat es dann aber doch nicht. Falls der Psychiater immer noch im Gefängnis sitzt, liegt sein Mobiltelefon wahrscheinlich auf dem Schreibtisch irgendeines fbi-Agenten. Oder womöglich steckt es in John Kaisers Tasche. Wer immer es hat – er hat wahrscheinlich längst die technische Maschinerie des fbi in Gang gesetzt und versucht die Nummer der Person zurückzuverfolgen, die den Hauptverdächtigen anrufen wollte.
    Nachdem ich Malik ebenfalls nicht erreichen konnte, blätterte ich mein digitales Telefonbuch durch. So etwas tut man, wenn man deprimiert ist. Oder besser, ich tue so etwas. Blättere mein Telefonbuch durch und rufe Freundin auf Freundin an, während ich bete, eine mitfühlende Stimme zu erwischen. Ich rufe Leute an, die ich seit Monaten, manchmal seit Jahren nicht gesehen habe. Doch heute … diesmal habe ich es nicht getan. Als ich die sanften Hügel von Mississippi hinter mir gelassen und die Grenze nach Louisiana überschritten hatte, riefich die Auskunft an und ließ mir die Nummer von Michael Wells’ Praxis geben. Es kostete mich ein wenig Überzeugungsarbeit, doch schließlich wurde ich von seiner Sprechstundenhilfe durchgestellt. Ich sagte Michael, dass ich mich wirklich gerne mit ihm unterhalten würde, falls er ein wenig Zeit für mich hätte.
    »Ich stecke im Augenblick bis zum Hals in Arbeit, lauter Alligatoren«, sagte er lachend. »Genau genommen keine Alligatoren, sondern kranke Kleinkinder, aber das kommt aufs Gleiche raus. Ich würde mich gerne später mit dir treffen, Cat … darf ich dich zum Abendessen einladen? Wir haben in Natchez seit neuestem sogar ein Thai-Restaurant.«
    Ich schwieg für einen Moment, vielleicht auch etwas länger, weil Michael schließlich fragte: »Cat? Stimmt was nicht?«
    »Äh … ja. Deswegen wollte ich mit dir reden. Aber wir können das auch auf ein andermal verschieben.«
    »Sag mir, was los ist.«
    »Du erinnerst dich an unser Gespräch über unterdrückte Erinnerungen?«
    »In Zusammenhang womit? Normalerweise kommt das nur bei Kindesmissbrauch vor.«
    »Genau. So etwas in der Art.«
    Er schwieg ein paar Sekunden. »Ist das eine hypothetische Frage?«
    Ich wusste nicht genau, wie ich darauf antworten sollte. »So ähnlich.«
    »Vergiss das Essen. Komm in meine Praxis, jetzt gleich. Du findest mich auf dem Jeff Davis Boulevard – du weißt noch, wo das ist?«
    »Sicher, aber es ist schon okay. Vergiss einfach, dass ich angerufen habe. Ich bin im Augenblick außerhalb der Stadt.«
    »Wo bist du? New Orleans?«
    »Nein. Hör mal … wenn ich rechtzeitig zurück bin, rufe ich später noch mal an, okay?«
    »Cat …«
    Ich legte auf und schaltete mein Handy auf Lautlos. Warum hatte ich versucht, einen Kinderarzt in meine Geschichte hineinzuziehen, der nichts über

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