Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
Vom Netzwerk:
mich und meine Probleme weiß? Weil wir uns aus der Schulzeit kennen? Weil er ein freundliches Gesicht hat? Weil er Kinder behandelt und ich mich in diesem Augenblick fühlte, als wäre ich vier Jahre alt?
    Auf der anderen Seite des Flussbetts gleitet ein grünes Skiff im Schatten der Zypressen am Ufer entlang. Ich kneife die Augen zusammen und erkenne die Silhouette eines schwarzen Teenagers mit nacktem Oberkörper. Er paddelt ein paar Meter, beugt sich vor, arbeitet an etwas, richtet sich auf und paddelt weiter. Als er einen fetten grauen Fisch aus dem Wasser zieht, erkenne ich, was er tut. Er kontrolliert eine Fischerleine. Die verankerte Leine ist mit dutzenden von Haken versehen, alle fünfzig bis sechzig Zentimeter einer, geködert mit irgendetwas Stinkendem, um die Welse anzulocken, die es in diesem alten Flussarm zuhauf gibt. Es ist sicher zehn Jahre her, dass ich zum letzten Mal auf der Insel gewesen bin, aber das Leben dort scheint sich nicht verändert zu haben.
    Während der Teenager sich die Leine entlangarbeitet, nehme ich mein Mobiltelefon zur Hand und betätige die Schnellwahl von Dr. Hannah Goldman. Hannah ist sozusagen meine letzte Zuflucht. Ich rufe sie nicht häufig an, aber wenn, antwortet sie sofort oder ruft mich innerhalb einer Stunde zurück. So viel Engagement findet man nicht allzu oft bei Therapeuten.
    »Cat?«, fragt sie. Offensichtlich hat sie auf das Display geblickt und meine Nummer erkannt.
    »M-hm«, sage ich kleinlaut.
    »Wo sind Sie, Cat? Wir haben eine schlechte Verbindung.« Ihre Worte werden von einem kurzen Ausbruch von Statik untermauert.
    »Ich bin außerhalb der Stadt. Aber das spielt keine Rolle.«
    »Was ist passiert, Cat?«
    »Ich habe eben etwas herausgefunden.«
    »Möchten Sie mit mir darüber reden?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Nun, Sie haben mich angerufen, nicht wahr? Also nehme ich an, dass Sie mit mir reden wollen.«
    »Okay.«
    »Zwanzig Worte oder weniger.«
    »Mein Großvater hat meinen Vater erschossen.«
    Es gibt nicht viel, das Dr. Goldman die Sprache verschlägt, doch jetzt ist es passiert. Es dauert mehrere Sekunden, bis sie wieder spricht. »Bitte erzählen Sie mir ein paar Details. Ich dachte, Ihr Vater wäre von einem Einbrecher erschossen worden?«
    »Das dachte ich auch immer. Aber heute hat mein Großvater mir eine andere Geschichte erzählt. Es ist ziemlich kompliziert. Ich habe zufällig in meinem Kinderzimmer Blut entdeckt. Altes Blut, nach dem ich nicht gesucht habe. Aber ich fing an, über jene Nacht nachzudenken, verstehen Sie? Ich stellte Fragen. Ich wollte ein Team von außerhalb mit der Spurensicherung beauftragen, und da beschloss er, mir die Wahrheit zu erzählen.«
    »Wer? Dr. Kirkland?«
    »Ja.«
    »War es ein Unfall?«
    »Mehr oder weniger. Er hat meinen Vater dabei überrascht, wie er mich missbraucht hat. Sexuell missbraucht. Und er hat ihn erschossen.«
    »Ich verstehe«, sagt Dr. Goldman mit ihrer professionellsten Stimme.
    Sie sagt »Ich verstehe«, um nicht »Mein Gott!« oder irgendwas in der Art zu rufen. Hannah versucht Distanz zu wahren, doch es gelingt ihr nicht. Deswegen darf ich sie auch so anrufen. Hannah Goldman ist irgendwo in der Mitte zwischen professioneller Distanz und dem leidenschaftlichen Engagement von Nathan Malik.
    »Glauben Sie, was Ihr Großvater Ihnen erzählt hat?«
    »Er hat mich noch nie angelogen, außer in dieser Sache. Er sagt, er hätte die Wahrheit vor mir verborgen, um mich zu schützen. Und ich hatte immer das Gefühl, dass irgendwas mit der Geschichte nicht stimmt, die sie mir als Kind erzählt haben.«
    »Haben Sie irgendwelche Erinnerungen an die Ereignisse, die Ihr Großvater beschrieben hat?«
    »Nein. Aber ich denke in letzter Zeit viel über unterdrückte Erinnerungen nach.«
    »Warum?«
    »Es hat mit einem Mordfall zu tun, an dem ich zurzeit arbeite.«
    »Die Morde hier in New Orleans?«
    »Richtig.«
    »Ich verstehe.«
    »Glauben Sie, dass es so etwas wie unterdrückte Erinnerungen gibt, Hannah? Ich meine, halten Sie es für möglich, dass jemand eine Erinnerung völlig aus seinem Bewusstsein ausblenden kann?«
    »Ja. Es ist allerdings ein kontroverses Thema. Wir wissen nur wenig über die Neuromechanik der Erinnerung. Doch unsere derzeitigen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass ein traumatisiertes Opfer während der verursachenden Ereignisse dissoziiert und sich später an nichts mehr erinnern kann. Eine Amnesie sozusagen. Das Eigenartige an Ihrem Fall ist, dass es verkehrt herum geschieht.

Weitere Kostenlose Bücher