Bisswunden
weiß, wohin ich muss, sprinte ich los und lasse das Fahrrad hinter mir. Meine Füße haben besseren Tritt im Schlamm, und ich bin vor Louise auf ihrer Veranda.
Während ich beobachte, wie sie die letzten Meter herankommt, wird mir bewusst, dass ich im Begriff stehe, Dinge über meinen Vater zu hören, von denen er niemals gewollt hätte, dass ich sie erfahre. Weiß diese schöne Fremde etwas, das erklärt, was Großvater mir heute gestanden hat? Oder es zumindest bestätigt?
»Gehen Sie ruhig schon rein«, sagt sie, während sie ihr Fahrrad die Treppe zu der kleinen Veranda des Hauses hinaufträgt. »Ich bin direkt hinter Ihnen.«
Ich trete durch die dünne Vordertür in einen Raum, der zugleich Küche, Wohn- und Esszimmer ist. In dem Augenblick, in dem ich eintrete, werden mir zwei Dinge mit verblüffender Deutlichkeit bewusst. Erstens das Geräusch des Regens, der auf das Blechdach über mir prasselt. Es ist, als wäre mein wiederkehrender Traum plötzlich Wirklichkeit geworden, und das prasselnde Geräusch nimmt mir fast den Atem. Und zweitens die Gewissheit, dass mein Vater tatsächlich einmal in diesem Haus gelebt hat. Auf dem Sims über einem Gaskamin steht die Skulptur einer Frau. Sie wirkt eher afrikanisch als asiatisch – ein ovales volles Gesicht über einem langen Hals und ein geschmeidiger Rumpf mit langen, eleganten Gliedmaßen –, und der erste Blick verrät mir, dass sie das Werk meines Vaters ist. Die Frau liegt auf der Seite, ein Knie aufgestellt, eine Hand auf der Hüfte, wie eine Frau im Bett, die ihren Liebhaber beobachtet. Diese Skulptur allein ist sicher mehr wert als Louises ganzes Haus.
Auch der Esstisch ist eine Arbeit meines Vaters. Gebürsteter Stahl mit eingelassenen Glasplatten und mit dem Stahl verschmolzenem Glimmer. Ich sehe kein Bett in diesem Raum, doch ich bin bereit, alles zu wetten, dass er auch das Bett gebaut hat.
»Luke wollte, dass ich mein eigenes Haus habe«, sagt Louise hinter mir.
Plötzlich wankt der Boden unter meinen Füßen. Die Hitze im Haus ist erstickend, als wären Fenster und Türen tagelang verschlossen gewesen, während das Prasseln des Regens von Sekunde zu Sekunde lauter wird. Aber das ist nur die eine Hälfte. Heute ist das Leben meines Vaters von einem Flickwerk glücklicher Erinnerungen zu einem Haus voller Spiegel geworden.
»Was ist los?«, ruft Louise erschrocken.
»Keine Ahnung.«
Sie springt zu einer im Fenster montierten Klimaanlage und schaltet sie ein. Das dröhnende Klappern des Ventilators dämpft das Prasseln des Regens ein wenig, aber es ist zu spät.
»Sie werden ohnmächtig!«
Als meine Knie unter mir nachgeben, fängt Louise mich auf und steuert meinen zusammenbrechenden Körper in Richtung eines Sofas.
28
H ier, trinken Sie das«, sagt Louise und hält mir ein Glas Eistee unters Kinn. »Die Hitze war zu viel für Sie. Das Haus war ein paar Tage lang verschlossen, und ohne Klimaanlage wird es hier drin so heiß wie in einem Ofen.«
»Es war nicht die Hitze«, widerspreche ich, während ich das Glas nehme und einen Schluck von dem sirupartig süßen Tee trinke.
»Waren es Lukes Sachen? Ich hätte wissen müssen, dass das Erinnerungen in Ihnen weckt.«
»Das ist nicht der Grund, nein.«
Sie studiert mich aus ihren großen braunen Augen. »Sie sehen jedenfalls verängstigt aus, mehr als alles andere.«
Ich nicke langsam. »Es ist der Regen.«
»Der Regen?«
»Das Geräusch. Regen, der auf das Dach prasselt.«
Sie sieht mich verwirrt an. »Sie mögen dieses Geräusch nicht?«
»Es geht nicht darum, ob ich es mag oder nicht. Ich ertrage es nicht.«
»Tatsächlich? Ich liebe dieses Geräusch. Es macht, dass ich mich einsam fühle, aber ich liebe es trotzdem. Ich habe ganze verregnete Nachmittage lang mit Luke im Bett gelegen und diesem Geräusch gelauscht. Es ist wie Musik.«
Ich versuche zu lächeln, doch meine Lippen gehorchen mir nicht.
»Es tut mir Leid. Sie sind völlig durcheinander, und ich rede nur über die alten Zeiten. Ist Ihnen mal irgendetwas Schlimmes passiert, während es geregnet hat?«
»Ich wünschte, ich wüsste es. In letzter Zeit verfolgt mich das Geräusch bis in meine Träume, und manchmal höre ich es sogar, während ich wach bin.«
»So ist das manchmal«, sagt Louise und geht zum Waschbecken. »Ich hab eine Menge Dinge in mir, die ich nicht verstehe.« Sie lässt Leitungswasser in eine Kanne laufen. »Ich mache uns einen Kaffee. Es kann vierzig Grad heiß sein draußen, aber ich brauche meinen
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