Bisswunden
haben. Aber wenn das der Fall ist – wieso hat Großvater nicht die Polizei alarmiert, damit sie das Land und die Umgebung nach mir oder meinem Leichnam absucht? Und warum hat niemand versucht, mich auf dem Mobiltelefon zu erreichen?
Ich umrunde das Haus und erreiche die Vorderseite, die von gelbem Flutlicht angestrahlt wird, dann bleibe ich stehen und überprüfe mein Handy. Die Anruferliste zeigt drei Anrufe in Abwesenheit von der Nummer meines Großvaters aus. Weil ich das Telefon auf Vibrationsalarm gestellt habe, konnte ich sie nicht hören, während ich schlief, und wegen des Schocks über die Anrufe nach meinem Aufwachen habe ich vergessen, einen Blick auf die Liste zu werfen. Der letzte Anruf kam wahrscheinlich um die Zeit, als ich meinen Albtraum hatte. Ich drücke auf die 1 und höre meine Mailbox ab.
»Catherine, hier ist Großpapa.« Seine Stimme klingt voll, selbst im winzigen Lautsprecher des Mobiltelefons. »Henry hat deinen Wagen auf der anderen Seite des Damms gegenüber der Insel gefunden. Von dir war nirgendwo eine Spur. Louise Butler sagt, du wärst mit dem Fahrrad über den Damm aufs Festland gefahren, aber niemand weiß, ob du es geschafft hastoder nicht. Bitte ruf mich zurück, sobald du diese Nachricht erhältst. Wenn du verletzt bist oder in Schwierigkeiten steckst, keine Angst. Die Sheriffbüros auf beiden Seiten des Flusses suchen auf meine Veranlassung hin die Ufer und Straßen nach dir ab, und Jesse hat ein Dutzend Männer beauftragt, die Insel zu durchkämmen. Wenn du einen Unfall hattest – Hilfe ist schon unterwegs. Bitte ruf mich zurück.«
Die Sorge in der Stimme meines Großvaters lässt mir fast die Tränen in die Augen steigen. Seine nächste Nachricht lautet: »Ich bin es wieder. Wenn du in irgendwelchen anderen Schwierigkeiten steckst – das heißt, falls Dritte darin verwickelt sind –, dann lass sie diese Nachricht hören. Hier spricht Dr. William Kirkland. Wenn Sie von irgendwo aus der Gegend stammen, wo Sie meine Enkeltochter gefunden haben, dann kennen Sie meinen Namen. Und Sie wissen, dass Sie einen Fehler gemacht haben. Wenn Sie meine Enkelin augenblicklich freilassen, werde ich der Sache nicht weiter nachgehen. Aber wenn Sie ihr etwas antun … bei Gott, Sie werden nicht einen Tag länger leben, als bis ich Sie gefunden habe. Und ich werde Sie finden. Fragen Sie herum. Sie würden lieber Höllenhunde auf Ihrer Fährte haben als mich, glauben Sie mir.«
Meine Haut prickelt. Die Stimme, die zu meinen unbekannten Entführern gesprochen hat, war die eines Racheengels. Tödlich kalt und voller Drohung und so selbstsicher, dass nichts und niemand sich ihr widersetzen könnte. Es ist die Stimme jenes Mannes, der vor all den Jahren die entflohenen Sträflinge auf DeSalle Island gejagt und zur Strecke gebracht hat.
Bei seinem dritten Anruf hinterlässt mein Großvater keine Nachricht.
Ich blicke zur hell angestrahlten Fassade von Malmaison, und ich bin sicherer als je zuvor, dass ich niemanden im Haus sehen will. Nicht Großvater. Nicht einmal Pearlie. Das ist der Grund, warum ich zu Fuß gekommen bin. Wäre ich in Michaels Ford Expedition vorgefahren, hätte man mich bemerkt, und jeder hätte sich mit Fragen auf mich gestürzt. MeineChancen, unbemerkt eine Pistole aus Großvaters Waffenschrank zu nehmen, wären drastisch gesunken. Doch auf diese Weise …
Ich trotte zum anderen Ende von Malmaisons Ostflügel, wo kaum Licht ist. Die meisten dieser Räume sind verschlossen, außer während der Frühlingswallfahrt. Ich weiß seit meiner Zeit in der achten Klasse, dass man das Schloss bei einem der Fenster mit einer dazwischen geschobenen Kreditkarte öffnen kann. Ich bin auf diese Weise ins Haupthaus geschlichen, um den Barschrank meines Großvaters zu plündern. Heute habe ich keine Kreditkarte bei mir – ich habe meine Handtasche im Wagen bei der Insel gelassen –, doch Michael hat mir einen abgelaufenen Führerschein gegeben, der genauso gut funktioniert. Nach dem Passfoto zu urteilen, muss er um die dreißig Kilo schwerer gewesen sein, als der Führerschein ausgestellt wurde. Ich drücke den Führerschein kräftig in den Spalt zwischen den Paneelen der hohen französischen Fensterflügel. Sie gleiten ein Stück weit auseinander, und das laminierte Plastikkärtchen schiebt den Riegel hoch.
Ich klettere über das Sims und durch die schweren Vorhänge und rieche Mottenkugeln. Der größte Teil des Mobiliars in diesem Flügel ist mit weißen Möbelschonern
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