Bisswunden
gibt es viel Schmerz – ganz besonders dann, wenn man als Mädchen geboren wird –, doch es steht uns nicht an, dies infrage zu stellen. Wir müssen damit zurechtkommen, so gut wir können.«
»Glaubst du das wirklich, Pearlie?«
Sie hebt den Blick und sieht mich wieder an, und ihre Augen leuchten intensiver als je zuvor. »Ich muss es glauben. Das ist das Einzige, was mich bis hierher gebracht hat.«
»Was meinst du mit ›bis hierher‹? In dieses Haus? Zu dieser Arbeit? Zu deiner Anstellung bei meinem Großvater?«
Jetzt schleicht sich Indignation auf ihre Züge. Sie spricht mit bebender Stimme. »Ich arbeite für diese Familie, nicht für Dr. Kirkland. Ich bin 1948 mit siebzehn Jahren hierher gekommen und habe für den alten Mr. DeSalle gearbeitet. Deine Großmutter, deine Mutter, du – ihr seid alle DeSalles. Ich habe für euch alle gearbeitet. Dr. Kirkland ist nur der Mann, der heute meine Schecks unterschreibt.«
»Ist er wirklich nur das, Pearlie? Ist er nicht vielmehr der Mann, der sagt, was gemacht wird? War er das nicht schon immer?«
Sie nickt ernst. »Es gibt immer einen Mann, der sagt, was gemacht wird. Und hier in dieser Gegend ist Dr. Kirkland dieser Mann. Jeder weiß das. Und jetzt wirst du zu ihm gehen und ihm sagen, dass alles in Ordnung ist, oder nicht?«
»Das kannst du ihm sagen, wenn ich wieder weg bin.« Ich will mich umdrehen und gehen, als mir etwas einfällt, was Michael gesagt hat, begleitet von einem bruchstückhaften Bild aus meinen Träumen – der schwarzen Gestalt, die über meinem Bett mit meinem Vater kämpft.
»Hast du in jener Nacht den Abzug betätigt, Pearlie? Hast du geschossen?«
Das Weiße in den Augen der alten Frau wird groß. »Hast du den Verstand verloren, Kind? Was glaubst du eigentlich, was du da sagst?«
»Hast du meinen Vater erschossen? Das ist die Frage, die ich dir stelle. Hast du meinen Vater erschossen, um mich vor ihm zu schützen?«
Sie schüttelt langsam den Kopf. »Wohin willst du mit diesem Wagen?«
»Die Wahrheit über diese Familie herausfinden.«
»Wo willst du die Wahrheit herausfinden?«
»Mach dir darüber keine Gedanken. Ich gebe dir Bescheid. Und dann kannst du weiter so tun, als hättest du die ganze Zeit keine Ahnung gehabt.«
Pearlie öffnet den Mund, als wollte sie etwas erwidern, doch sie bleibt stumm.
Ich schüttle den Kopf, wende mich ab und renne durch den Korridor davon.
Eigentlich habe ich erwartet, meinen Großvater und Billy Neal hinter dem Haus bei einem Gespräch anzutreffen, doch es ist nichts von ihnen zu sehen. Ich blicke mich suchend auf demParkplatz um, dann gehe ich zu meinem Audi und betätige unterwegs den elektronischen Türöffner.
Als ich den Türgriff packen will, taucht Billy Neal hinter Pearlies Cadillac auf. Er trägt schwarze Jeans, ein grünes Seidenhemd und Cowboystiefel aus Schlangenleder. Seine Augen sind so tot wie die Schlangen, die seine Stiefel schmücken, doch sein Blick bohrt sich mit mechanischer Präzision in den meinen.
»Ich will verdammt sein!«, sagt er. »Die meisten Leute halten Sie für tot!«
»Haben Sie das ebenfalls geglaubt?«
Ein schwaches Grinsen huscht über sein Gesicht. »Ich hab sogar darauf gewettet.«
»Warum hassen Sie mich, Billy? Sie kennen mich doch nicht einmal richtig.«
Er kommt zum Audi und starrt mich über das Dach hinweg an. »Oh, ich kenne Sie. Ich habe Frauen wie Sie gefickt. Verwöhnte Prinzessinnen, auf die ein Treuhandfonds wartet, die sich nie auch nur einen einzigen Tag in ihrem Leben Sorgen machen mussten. Und trotzdem verpulvert ihr die Hälfte eures Geldes damit, euch bei Seelenklempnern auf die Couch zu legen.«
»Was kümmert es Sie?«
Er legt die Unterarme aufs Dach und beugt sich vor. »Weil du glaubst, deine Scheiße würde nicht stinken. Du siehst in meine Richtung, aber du bemerkst mich nicht einmal. Jedenfalls nicht tagsüber. Nachts sieht es ganz anders aus, nicht wahr? Nachts bin ich genau die Sorte Kerl, nach der ihr sucht. Ich habe Geschichten über dich gehört, Miss Cat. Du gehst gern auf Partys, nicht wahr? Selbst die Leute aus der Highschool erinnern sich noch gut an dich. Das reiche Ding, das so gerne Spaß hatte. Genau wie sich die Leute an deine Tante erinnern. Die gleiche alte Geschichte, nur noch schlimmer.«
»Was genau machen Sie eigentlich für meinen Großvater?«
»Dinge, die er selbst nicht mehr tun kann, weil er zu altdafür ist.« Billy zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch über das Dach in meine
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