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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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abgedeckt. Ich fühle mich, als bewegte ich mich durch ein leeres Museum. Draußen im Korridor rieche ich gebratenen Schinken. Rasch eile ich zum Büro meines Großvaters, das Zimmer, das Napoleons Bibliothek nachempfunden ist. Die Tür steht offen, und die Schreibtischlampe brennt, doch es ist niemand im Raum.
    Der Waffenschrank ist ziemlich groß – groß genug, um das architektonische Modell aufzunehmen, das Großvater mir vor ein paar Tagen gezeigt hat, plus seiner Sammlung an Gewehren, Schrotflinten, Pistolen und Revolvern. Das Kombinationsschloss macht mir keine Probleme – es ist mein Geburtsdatum. Vier Klicks nach links, acht Klicks nach rechts, dreiundsiebzig links, und dann am Griff drehen. Einmal, während ich drehe, glaube ich draußen im Gang Schritte zu hören. Ich lausche erstarrt, doch niemand erscheint.
    Ich drehe am Griff, und die schwere Tür gleitet auf.
    Das Casino-Modell ist verschwunden, doch die Waffen sind noch da. Fünf Gewehre, drei Schrotflinten und mehrere Handfeuerwaffen in Halftern auf dem Boden des Waffenschranks. Der Geruch nach Waffenöl ist durchdringend, aber ich rieche noch mehr.
    Verbranntes Schießpulver.
    Eine nach der anderen nehme ich die Waffen aus ihren Halterungen und rieche am Lauf. Die beiden ersten glänzen, die Läufe sind sauber. Doch die dritte wurde erst vor kurzem abgefeuert. Ich drehe die Waffe ins Licht – es ist eine Remington 700, zerschrammt vom vielen Gebrauch, doch gut erhalten und gepflegt. Plötzlich beginnt mein Puls zu rasen. Ich habe mit diesem Gewehr einen Hirsch geschossen, als ich ein kleines Mädchen war. Doch das ist es nicht, was meinen Herzschlag beschleunigt.
    Ich halte das Gewehr in den Händen, das meinen Vater getötet hat.
    Als Kind habe ich meinen Großvater mehrfach gebeten, die Waffe abzustoßen, doch er hat es nie getan. Er sah keinen Grund, »ein gutes Gewehr« aus »sentimentalen Gefühlen« loszuwerden. Heute, nachdem ich weiß, was er mit dieser Waffe getan hat – oder wenigstens behauptet, getan zu haben –, überrascht es mich noch mehr, dass er die Remington behalten hat. War sie vielleicht eine Trophäe, wie die Weatherby, mit der er seinen Elchbullen in Alaska geschossen hat? Wichtiger noch – wer hat die Waffe in den letzten Tagen benutzt?
    Ich habe keine Zeit zum Spekulieren.
    Ich stelle das Gewehr zurück und nehme mir eine automatische Pistole vom Boden des Schranks. Nichts Großes oder Schickes, bloß eine kleine Walther ppk, die wir auf der Insel für Zielübungen benutzt haben. Die schwarze Waffe sieht nass und gefährlich aus im Licht der Schreibtischlampe. Ich werfe das Magazin aus und sehe, dass es voll geladen ist. Ich hätte gerne ein paar Schuss Reservemunition, doch ich kann keinesehen, und ich habe keine Zeit zum Suchen. Außerdem – wenn sechs Schuss nicht reichen, um mich gegen Malik zu wehren, falls es so weit kommt, retten sechs Schuss mehr mich wahrscheinlich auch nicht.
    Während ich die Tür zum Waffenschrank schließe, überlege ich, wie seltsam es doch ist, dass ein Mann einem jungen Mädchen, von dem er weiß, dass es an Depressionen leidet, so viele Waffen zugänglich macht. Großvater hat sogar mein Geburtsdatum als Kombination eingestellt, Herrgott im Himmel! Was hat er sich bloß dabei gedacht? Andererseits … Großvater hat Depressionen nie als Krankheit angesehen, lediglich als Schwäche. Vielleicht dachte er, dass ich es nicht verdient hätte zu leben, wenn ich mich nicht als stark genug erweise, der Versuchung zu widerstehen, mich selbst zu töten.
    Draußen in der Halle lässt mich irgendetwas innehalten. Leise Stimmen schwirren durch die Luft. Zuerst Großvater. Dann Pearlie. Dann vielleicht Billy Neal, obwohl ich nicht sicher bin. Dann eine vollere, wärmere Stimme. Sie klingt unterwürfig, wie die Stimme eines Arbeiters im Haus seines Arbeitgebers. Die Stimme gehört Henry, dem Schwarzen, der mich gestern über den Damm zur Insel mitgenommen hat. Er erzählt, wie er heute Morgen meinen Audi gefunden hat und in Panik geraten ist. Er fürchtet, ich könnte in den Fluss gestürzt und ertrunken sein, genau wie meine Großmutter. Großvater entgegnet, ich könnte auf mancherlei verschiedene Arten sterben, aber ganz gewiss nicht ertrinken. Dann dankt er Henry dafür, dass er den Wagen zurückgebracht hat, und wünscht ihm einen guten Tag. Schwere Schritte ertönen auf dem Hartholz.
    Eine Fliegentür fällt ins Schloss.
    Jemand anderes spricht, und ich erkenne die gleichgültige Stimme von

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