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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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nehmen. Großvater ließ sie einweisen, und als sie zwei Monate später entlassen wurde, verhielten sich alle – einschließlich Ann –, als wäre sie auf wundersame Weise geheilt worden.
    Doch das war sie nicht.
    Jener erste Zusammenbruch fand statt, bevor ich geboren wurde. Ich kannte Ann als Zentrum jeden Familientreffens – zumindest der Treffen, an denen sie teilnahm. Sie war zwar vier Jahre älter als meine Mutter, wirkte aber stets ein Jahrzehnt jünger. Sie kannte sich mit Kleidung aus wie niemand sonst. Ihr Körper war gebaut für Mode; sie konnte Kleidungvon der Stange aussehen lassen wie Haute Couture. Auf Fotos aus den Siebzigern – als sie eben die Highschool abgeschlossen hatte – hat sie den athletischen Körper eines Bademoden-Models in Sports Illustrated. Doch gegen Mitte der achtziger Jahre war sie dünn wie ein Gerippe, und auf den Schnappschüssen aus jener Zeit haben ihre Augen jenen glasigen Blick, den ich nach meiner Erfahrung dem Konsum von Kokain zuschreibe.
    Was immer die Quelle ihrer Energie sein mochte, Ann war, was niemand sonst in der DeSalle-Familie je geschafft hatte – cool. Sie lehrte mich zu tanzen, wie man sich anzieht, wie man sich schminkt. Sie hat mich beim Rauchen meiner ersten Zigarette erwischt – die ich aus ihrer Packung gestohlen hatte – und sie mit mir geteilt. Sie verriet mir die Finessen von Zungenküssen und wie ich Jungen loswerden konnte, deren Aufmerksamkeit ich nicht wollte. Sie hat mir geraten, immer einen Jungen irgendwo in Wartestellung zu haben – selbst nachdem ich geheiratet hätte –, weil der Typ, mit dem man zusammen war, einen betrügen konnte und wahrscheinlich auch irgendwann würde. Einen zweiten auf Reserve an der langen Leine zu halten, war kein Betrug am gegenwärtigen Freund, pflegte sie zu sagen, sondern lediglich Selbstschutz. So machten das coole Girls, dachte ich damals.
    Doch Coolness altert nicht gut. Je älter ich wurde, desto häufiger bekam ich Anrufe mit, die meine Mutter zu allen Tages- und Nachtzeiten erhielt und nach denen sie manchmal hunderte von Meilen weit fuhr, um Ann zu retten, die zu diesem Zeitpunkt bereits, wie ich erst viel später erfuhr, als bipolar verhaltensgestört diagnostiziert worden war. Auf der Höhe einer manischen Phase verschwand sie manchmal für Wochen am Stück. Einmal fand die mexikanische Polizei sie in einer Bar in Tijuana, wo sie als Kellnerin gearbeitet hatte – dank einer internationalen Vermisstensuche, die mein Großvater initiiert hatte. Ich habe mich seit damals häufig gefragt, ob Kellnerin nicht eine beschönigende Umschreibung ist fürdas, was Tante Ann wirklich in jener Bar gemacht hat, als man sie fand.
    Doch was mir über Ann am stärksten in Erinnerung geblieben ist, war ihre Besessenheit, ein Baby zu bekommen. Manchmal schien diese Fixierung die Wurzel ihrer mentalen Krankheit zu sein. Weil ich mit sechzehn von zu Hause weg und aufs College ging, habe ich viele der Mühen versäumt, die sie unternahm, um sich wegen ihrer Unfruchtbarkeit behandeln zu lassen. Ich weiß lediglich, dass nichts jemals zum Erfolg geführt hat und dass es wohl an ihr liegen muss und nicht an einem ihrer beiden ersten Ehemänner. Während ihrer manischen Phasen kann nur ein Teenager auf Speed mit Ann mithalten, und niemand – nicht einmal meine Mutter – kann ihre Nähe aushalten, wenn sie in eine tiefe Depression fällt. Es ist unglaublich unfair. Ich hatte nicht den Wunsch, schwanger zu werden, und doch trage ich ein Kind in mir. Ann hat sich ihr Leben lang verzweifelt nach einer Schwangerschaft gesehnt, doch bei ihr ist es nicht geschehen.
    Was hat Ann zu Nathan Malik geführt? War es ihre bipolare Verhaltensstörung? Oder waren es wieder zu Tage tretende Erinnerungen an sexuellen Missbrauch? Wenn Malik aufhört, Spiele mit mir zu treiben, könnte ich in neunzig Minuten meine Antworten haben.
    Zu meiner Rechten blinkt das Schild des Angola Penitentiary auf. Normalerweise denke ich an die Insel, wenn ich das Schild sehe. Ich denke kurz an sie und verdränge die Gedanken dann wieder aus meinem Kopf. Doch heute lassen sich die Bilder, die vor meinem geistigen Auge entstehen, nicht wieder vertreiben. Ich bin in der Einraumklinik, wo Großvater die schwarzen Familien behandelt, die auf seiner Insel leben. Die Klinik, in der die zehnjährige Ann ihre Notoperation am Blinddarm hatte. Eine Legende in unserer Familie – die Geschichte ist immer die gleiche, bis in die Einzelheiten. Ein Sturm überspült den

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