Bisswunden
Damm, die Boote reißen sich los … Ann bekommt plötzlich eine Blinddarmentzündung … Großvater und Ivy operieren im Licht einer Coleman-Laterne. Ann hat eine schlimmeInfektion, doch sie überlebt, und die Arbeiter stehen draußen vor der Hütte und beobachten das Geschehen und jubeln nach der gelungenen Operation.
Doch heute schleicht sich ein neuer, furchtbarer Verdacht in meine Gedanken. Was, wenn Anns Problem nicht der Blinddarm war? Was, wenn mein Großvater sie missbraucht hat? Könnte es sein, dass er sie geschwängert hat? Ist es möglich, dass die »Notoperation« in Wirklichkeit eine Abtreibung war? Mein Gott. Wenn es eine Abtreibung war – und wenn er die Operation irgendwie vermasselt hat –, könnte das die Ursache dafür sein, dass Ann später im Leben nicht mehr schwanger werden konnte? Bevor ich weiter spekuliere, wähle ich die Nummer von Michael Wells’ Mobiltelefon.
»Cat?«, fragt er. Im Hintergrund höre ich das Plärren eines Autoradios.
»Ja. Hast du einen Moment Zeit? Ich habe eine medizinische Frage an dich.«
»Schieß los.«
»In welchem Alter kann ein junges Mädchen schwanger werden?«
Michael dreht das Radio leiser. »Das ist eine ziemlich allgemeine Frage. In Mississippi sind zwölfjährige Schwangere nichts Ungewöhnliches.«
»Aber was ist das früheste Alter, in dem ein Mädchen schwanger werden kann?«
»Das jüngste Alter? Nun ja, ich bin kein Frauenarzt. Allgemein definieren Kinderärzte die Vorpubertät als das Alter, in dem sich die ersten Schamhaare zeigen und das Brustgewebe sich zu entwickeln beginnt. Bei Afroamerikanerinnen ist das vor Vollendung des achten und bei Weißen ungefähr mit Vollendung des neunten Lebensjahres der Fall.«
»Du machst Witze!«
»Nein. Normalerweise können sie so früh noch nicht schwanger werden. Ich sage nicht, dass es noch nie passiert ist. Warum fragst du?«
»Ich habe überlegt, ob meine Tante Ann vielleicht mit zehn schwanger geworden sein könnte.«
Michael schweigt sekundenlang. »Du hältst es für möglich, dass dein Großvater sie geschwängert hat?«
»Vielleicht. Ich habe überlegt, dass die Blinddarmoperation damals auf der Insel in Wirklichkeit vielleicht gar keine Notfall-Appendektomie gewesen sein könnte.«
»Wow. Das würde auf jeden Fall beweisen, dass er es gewesen ist.« Er zögert, bevor er fortfährt. »Wann ungefähr ist das gewesen?«
Ich rechne schnell nach. »Irgendwann um 1958 herum.«
»Unmöglich. Damals gab es noch keine Schwangerschaften mit zehn Jahren. Das Durchschnittsalter für die erste Menstruation geht seit Jahrzehnten stetig zurück. Heute ist vielleicht ein Mädchen unter einer Million schon mit zehn Jahren fruchtbar, aber 1958? Vergiss es. Ich sehe deine Argumentationskette, aber ich denke, mit dieser Theorie bewegst du dich eindeutig in der Twilight Zone .«
Ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein soll oder nicht. »Bestimmt hast du Recht. In meinem Kopf dreht sich alles wegen dieser Sache, verstehst du?«
»Hat Ann sich inzwischen bei dir gemeldet?«
»Nein.«
»Wie weit bist du noch von New Orleans weg?«
»Neunzig Meilen.«
»Du nimmst Sean mit zu deinem Treffen mit Nathan Malik, richtig?«
»Richtig. Mach dir keine Gedanken, Michael. Es ist wirklich nicht nötig.«
»Ich mache mir aber Gedanken, und zwar so lange, bis du mich anrufst und mir sagst, dass das Treffen vorbei und dir nichts passiert ist.«
Seine Besorgnis bringt ein Lächeln auf mein Gesicht. »Ich rufe dich an, okay?«
»Okay.«
»Dann bis später.«
»Bis später.«
Ich schalte den Tempomat des Audi ab und beschleunige auf fünfundachtzig Meilen pro Stunde. Ein endloser Reigen von Gesichtern geht mir durch den Kopf wie ein Möbiusband – mein Großvater, Ann, meine Mutter, mein Vater, Billy Neal, Jesse und Louise –, doch jede Spekulation über ihre tatsächlichen Beziehungen untereinander sind fruchtlos. In weniger als zwei Stunden sitze ich dem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüber, der mir sagen kann, in welcher Beziehung er zu meiner kranken Tante steht – und der wahrscheinlich auch die Identität jenes Mannes zu enthüllen vermag, der mich als Kind missbraucht hat.
Und das ist alles, was in diesem Augenblick für mich von Bedeutung ist.
Malik hat mich instruiert, ihn anzurufen, wenn ich nur noch fünf Meilen vor New Orleans bin, doch ich habe es nicht getan. Stattdessen bin ich beim Williams Boulevard von der I-10 abgebogen, der ersten Ausfahrt von Kenner, dem westlichsten
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