Bisswunden
hebe meine Koffer über das Fenstersims, stelle sie innen ab, klettere hinterher und taste mich durch die Dunkelheit zum Lichtschalter neben der Tür. Es ist nicht weiter schwierig, weil mein Zimmer noch genauso aussieht wie im Mai 1989, als ich die Highschool abgeschlossen habe.
Die Wände sind braun verkleidet im Stil der 1970er, und der Teppichboden ist noch der gleiche marineblaue Belag, der imJahr meiner Geburt verlegt wurde. Seidene Schmetterlinge in unzähligen Farben hängen an hauchdünnen Fäden von der Decke, und Poster von Rockstars verzieren die Wände: u2, Sinead O’Connor, r. e. m., Sting. An der Wand gegenüber vom Schrank stehen Regale voller Fotos und Pokale – chronologische Zeugnisse einer Wettkampfkarriere, die mit fünf anfing und mit sechzehn zu Ende war. Die älteren Fotos zeigen meinen Vater – einen dunklen, attraktiven Mann mittlerer Größe – neben einem schlaksigen jungen Mädchen mit langen Gliedmaßen ohne erkennbare Muskeln. Als der Leib des Mädchens sich zu füllen beginnt, verschwindet mein Vater von den Bildern, und ein älterer Mann mit silbernem Haar, gemeißelten Gesichtszügen und durchdringenden Augen nimmt seine Stelle ein. Mein Großvater, Dr. William Kirkland. Ich betrachte die Fotos jetzt, und plötzlich erscheint es mir seltsam, dass meine Mutter auf so wenigen Bildern zu sehen ist. Doch Mutter hatte noch nie sonderliches Interesse am Schwimmen, einer »unsozialen« Aktivität, die viel Zeit verschlang – Zeit, die man in »angemessenere« Dinge investieren konnte.
Ich schaue in den Schrank und sehe Kleidung, die ich in der Highschool getragen habe. Unter der Kleiderstange steht ein Wäschekorb aus Weidengeflecht, gefüllt mit Louisiana Rice Creatures. Der Anblick der Kleidung macht mir nichts aus, doch die farbenprächtigen Stofftiere schnüren mir den Hals zu. Ursprünglich ausgestopft mit getrocknetem Reis, waren die Rice Creatures die einheimischen Vorläufer der Beanie Babies, die später im ganzen Land der allerletzte Schrei wurden. Es müssen gut dreißig Stück dieser kleinen Stofftiere im Korb liegen, doch das einzige, das mir wirklich etwas bedeutet, fehlt. Lena die Leopardin. Lena war mein Lieblingstier, auch wenn ich den Grund dafür nicht zu nennen vermag. Vielleicht, weil sie eine Katze war, genau wie ich. Ich habe Lenas Flecken geliebt, ihre Schnurrhaare, und wie sie sich an meiner Wange angefühlt hat, wenn ich schlafen ging. Ich trug sie überall mit mir herum, sogar beim Begräbnis meines Vaters. Dort,umgeben von Erwachsenen im Totenzimmer vor der Beisetzung, sah ich meinen Vater in seinem Sarg.
Er sah nicht mehr aus wie mein Vater. Er sah älter aus, und er wirkte sehr einsam. Als ich dies gegenüber meinem Großvater erwähnte, schlug er vor, dass Daddy sich vielleicht weniger einsam fühlen würde, wenn ich ihm Lena als Gesellschaft ausleihen würde, solange er schlief. Die Vorstellung, an einem einzigen Tag nicht nur meinen Vater, sondern auch Lena zu verlieren, machte mir Angst, doch Großvater hatte Recht. Lena hatte mich Nacht für Nacht weniger einsam gemacht, und ich war sicher, dass sie das Gleiche für Daddy tun konnte. Also fragte ich Mom, ob es okay wäre, und dann reckte ich mich über den Rand des Sargs und schob Lena zwischen meines Vaters Wange und Schulter, dorthin, wo sie auch bei mir Nacht für Nacht gelegen hatte. Ich vermisste sie später sehr, doch ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass Daddy ein klein wenig von meinem Herzen bei sich hatte, das ihm Gesellschaft leistete.
Als ich nun in diesem Schlafzimmer stehe, beschleicht mich Unbehagen, wie jedes Mal, wenn ich zu Hause zu Besuch bin. Warum lässt meine Mutter es so, wie es ist? Sie ist Innenarchitektin, du meine Güte! Mehr oder weniger manisch in dem Bestreben, jedes Zimmer zu verändern, über das man ihr die Herrschaft überlässt. Ist es die Erinnerung an meine Kindheit? An eine einfachere Vergangenheit? Oder ist es eine offene Einladung an mich, nach Hause zurückzukehren und an jenem Punkt neu anzufangen, an dem ich »aus den Gleisen gesprungen« bin? Wann genau das war – mein persönliches Versagen als »DeSalle-Frau« –, ist ein Streitpunkt innerhalb meiner Familie. In den Augen meines Großvaters habe ich nicht versagt, bevor ich an der Universität aufgefordert wurde, mich zu exmatrikulieren, was es mir unmöglich machte, in seine Fußstapfen als Chirurg zu treten. Doch in den Augen meiner Mutter geschah es schon viel früher, an irgendeinem Punkt
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