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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Fünfzigjährigen erschöpft hätte. Großpapa könnte überall sein, doch ich nehme an, dass er auf der Insel ist. Er ist ein leidenschaftlicher Jäger, und DeSalle Island – das vor Rotwild, Wildschweinen und sogar Bären nur so wimmelt – war eine Art zweites Zuhause für ihn, seit er vor einem halben Jahrhundert in die Familie hineingeheiratet hat.
    Als ich aus dem Audi steige, umfängt mich die Sommerhitze wie ein warmer, feuchter Umhang. Das Zirpen der Grillen und das Quaken der Frösche aus dem nahe gelegenen Bayou erfüllen die Nacht, doch diese Geräuschkulisse aus meiner Kindheit weckt gemischte Gefühle in mir. Mein Blick streift die Rückseite des Hauptgebäudes und bleibt an dem knorrigen Dogwood-Baum am Ende des Rosengartens hängen, der unser Haus von dem Pearlies trennt, und meine Kehle schnürt sichzu. Mein Vater ist unter diesem Baum gestorben, erschossen von einem Einbrecher, den er vor dreiundzwanzig Jahren dort gestellt hat. Ich kann diesen Baum nicht ansehen, ohne an jene Nacht denken zu müssen. Blaue Signallichter von Streifenwagen, die durch den Regen blitzen. Nasses, graues Fleisch. Glasige, blicklose Augen, die in den Himmel starren. Ich habe Großpapa viele Male gebeten, diesen Baum endlich zu fällen, doch er hat sich stets geweigert mit dem Argument, es wäre töricht, die Schönheit unseres berühmten Rosengartens aus Gründen der Sentimentalität zu zerstören.
    Sentimentalität.
    Ich hörte auf zu reden, nachdem mein Vater ermordet worden war. Wortwörtlich. Ich redete mehr als ein Jahr lang kein Wort mehr, während ich in meinem achtjährigen Gehirn ununterbrochen darüber nachdachte, was der Einbrecher gewollt haben konnte, das meines Vaters Leben wert gewesen wäre. Geld? Das Silber der Familie? Großvaters Kunst- oder Waffensammlung? Alles war möglich, doch wir stellten nie fest, dass irgendetwas gefehlt hätte, weder Geld noch Besitztümer. Als ich älter wurde, überlegte ich, ob es vielleicht meine Mutter gewesen sein könnte, die den Einbrecher angezogen hatte. Sie war damals eben erst dreißig und konnte leicht die Aufmerksamkeit eines Vergewaltigers auf sich gezogen haben. Doch da der Einbrecher niemals gefasst wurde, konnte auch diese Theorie nicht überprüft werden.
    Nach meiner ersten depressiven Episode – ich war fünfzehn – beschlich mich eine neue Angst: Dass es letztendlich überhaupt keinen Einbrecher gegeben haben könnte. Mein Vater war mit seinem eigenen Gewehr erschossen worden, und die einzigen Fingerabdrücke auf der Waffe hatten Familienangehörigen gehört. Ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, ob mein Daddy – seelisch zutiefst verwundet durch einen Krieg, den er nicht gewollt hatte – zu dem Entschluss gekommen war, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ob er, obwohl er eine liebende Frau und eine liebende Tochter besaß, dasGefühl hatte, den Schmerz nur durch eine Kugel beenden zu können. Ich war damals diesem Punkt selbst sehr nahe; daher wusste ich, dass es möglich war. Ich habe diesen Punkt in den Jahren danach noch mehr als einmal erreicht – und doch hat mich irgendetwas immer wieder davon abgehalten, den Tod meines Vaters als Selbstmord zu akzeptieren. Manchmal denke ich, dass die Kraft, die mich in jenen grauenvollen Nächten am Leben gehalten hat, ein Geschenk meines Vaters an mich war, das einzige Erbe, das er mir hinterlassen hat.
    Ich hasse diesen verdammten Rosengarten. Gestaltet nach dem ursprünglichen Garten von Malmaison, den Josephine selbst angelegt hat und in dem jede Rosenart zu finden ist, die es gibt. Der Garten erfüllt die Luft von Malmaison mit einem Duft, der Touristen vor Entzücken den Atem verschlägt. Doch für mich wird der Geruch der Rosen für immer mit dem Gestank des Todes verknüpft sein.
    Ich wende mich vom Garten ab und lade meine Zahnarztkoffer mit jener Paranoia aus dem Wagen, die aus Jahren des Lebens in der Großstadt geboren ist. Erst auf halbem Weg zur Tür unseres ehemaligen Sklavenquartiers fällt mir ein, dass ich in Natchez wahrscheinlich alles einen ganzen Monat lang im unverschlossenen Wagen liegen lassen könnte, und alles wäre bei meiner Rückkehr so, wie ich es verlassen hätte.
    Die Tür ist verschlossen. Ich habe keinen Schlüssel. Ich gehe ums Haus herum zu meinem alten Schlafzimmer, stelle meine Koffer ab und schiebe das Fenster hoch. Der abgestandene Geruch, der mir durch die Vorhänge entgegenschlägt, versetzt mich augenblicklich fünfzehn Jahre zurück in die Vergangenheit. Ich

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