Bisswunden
Großvater noch nie. Ich habe seine Fähigkeiten respektiert, genau wie sein Engagement für die Stadt, doch das ist so ungefähr das einzige Gute, was ich über Bill Kirkland sagen kann. Und was Ihre Frage angeht, so lassen Sie mich Folgendes sagen: Der Mann ist beinahe achtzig Jahre alt und nimmt so viel Viagra wie jeder andere Patient, den ich behandle. Ich weiß es, weil er es gratis von einem der Arzneimittelrepräsentanten bekommt. Und soweit ich weiß, besucht er keine Frauen in der Stadt. Auf der anderen Seite weiß ich längst nicht mehr über alles Bescheid, was in Natchez vorgeht. Also beweist das gar nichts.«
Während ich mich erhebe, fragt Dr. Cage: »Wie geht es übrigens Ihrer Tante Ann? Ich habe sie immer wieder wegen ihrer Depressionen behandelt, wenn sie wütend auf ihre Psychiater war.«
»Sie ist tot.«
Dr. Cage ist sichtlich erschüttert. »Wie ist es passiert?«
»Selbstmord. Gestern Nacht.«
»Herr im Himmel! Das tut mir wirklich Leid.«
»Hat Ann jemals Ihnen gegenüber etwas von sexuellem Missbrauch erwähnt?«
Er schüttelt den Kopf. »Sie war von dem Gedankenbesessen, ein Kind zu haben, das ist mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben. Und ihre Beziehung zu Ihrem Großvater war eine Hassliebe. Sie war in allem von ihm abhängig und hat sich für ihre Abhängigkeit gehasst.«
»Wissen Sie etwas über die Appendektomie, die mein Großvater auf der Insel an ihr vorgenommen hat?«
Dr. Cage lacht. »Verdammt, ja. Ich habe Bill diese Geschichte wenigstens ein Dutzend Mal erzählen hören! Er benimmt sich gerade so, als hätte er mit nichts als einem Taschenmesser und ein wenig Alkohol zum Desinfizieren eine Herztransplantation vorgenommen!«
»Ann war zehn, als das passiert ist. Halten Sie es für möglich, dass sie schwanger gewesen sein könnte?«
Dr. Cages Augen verengen sich zu Schlitzen, doch nach einer Weile schüttelt er den Kopf. »Nein. In meinen mehr als vierzig Jahren als praktischer Arzt habe ich eine einzige schwangere Elfjährige erlebt. Vielleicht zwei. Allmächtiger Gott, Sie durchwandern tatsächlich den ganzen Abgrund, Mädchen, wie?«
Ich nicke. »Fühlt sich jedenfalls so an.«
Er blickt zu Michael. »Passen Sie gut auf diese junge Frau auf, Michael. Sie ist zäh, aber sie ist längst nicht so zäh, wie sie glauben mag.«
»Mache ich.«
Dr. Cage schüttelt Michael die Hand, und dann ist er durch die Tür.
»Möchtest du noch immer den Leichnam deines Vaters exhumieren?«, fragt Michael.
»Mehr als je zuvor.«
Er seufzt und führt mich nach draußen ins Wartezimmer. Auf den weißen Kacheln ist eine Blutspur, und ein blutiger Fußabdruck in der Nähe der Tür. Augenblicklich muss ich an die im Luminol sichtbaren Abdrücke in meinem alten Zimmer denken. Die Tür vor mir beginnt zu verschwimmen, und meine Knie geben nach. Michael stützt mich und führt mich an den glotzenden Gesichtern vorbei nach draußen.
»Ich nehme dich mit in meine Praxis und mache ein paar Untersuchungen«, sagt er.
Ich blinzele im grellen Sonnenlicht. Verrückte Bilder blitzen in der Helligkeit auf. Der Grabstein meines Vaters … ich selbst als kleines Mädchen, das Lena die Leopardin in seinen Sarg legt …
»Nein. Wenn ich jetzt innehalte, komme ich nicht mehr in Bewegung. Wir machen weiter.«
51
D er städtische Friedhof in Natchez ist einer der schönsten Friedhöfe der Welt, doch heute bringt er mir keine innere Ruhe. Ich fahre den Wagen meiner Mutter über einen der schmalen Asphaltwege, Mom auf dem Beifahrersitz, und sie wirkt so nervös und ängstlich, wie ich sie noch nie gesehen habe. Sie ist seit Anns Tod sichtlich gealtert. Ihre Haut ist schlaff und bleich, und ihre Augen blicken stumpf.
»Ich weiß überhaupt nicht, was wir hier wollen«, sagt sie leise. »Wir sind noch früh genug hier, um Ann beizusetzen.«
»Ich möchte Daddys Grab sehen. Ich möchte, dass unsere Familie beieinander ist, wenn ich mit dir rede. Wir drei.«
»Was ist nur in dich gefahren?« Sie starrt durch die Windschutzscheibe nach draußen. »Das fbi sucht nach dir. Daddy und Pearlie sind in Aufruhr wegen dir. Daddy hat ein sehr wichtiges Geschäft, das kurz vor dem Abschluss steht und diese Stadt retten soll, und er hat Angst, du könntest es ruinieren, wenn du weiter einen solchen Aufstand machst.«
Ich setze die Fahrt über den schmalen Weg fort, unter einem Tunnel aus Eichen hindurch und an langen schmiedeeisernen Abtrennungen vorbei. Hier in der alten Sektion des Friedhofs gibt es
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