Bisswunden
nur Familiengräber, und hier liegt auch unser Grab, wodie knorrigen Stämme gigantischer Eichen hoch aufragen und in den Schatten Spanisches Moos gedeiht.
»Besuchst du Daddys Grab häufig?«, frage ich.
Mom antwortet nicht.
Hätte Michael mich nicht vor Moms Shop rausgelassen – wie ich ihn gebeten habe –, hätte ich sie ganz bestimmt nicht auf den Friedhof bekommen. Doch indem ich ihr angeboten habe, sie nach Hause zu fahren, habe ich die Kontrolle über den Wagen und – zumindest für den Augenblick – auch über sie.
»Mom, hast du Beruhigungsmittel genommen?«
Sie richtet den Blick auf mich. »Du hast wirklich Nerven, Kind. Du nimmst doch Tag für Tag in deinem Leben flüssige Beruhigungsmittel zu dir.«
»Ja. Aber heute bin ich trocken. Ich bin schon seit einer Woche trocken, ob du es glaubst oder nicht.«
Mom schweigt.
»Ich frage nur, weil ich neugierig bin. Hast du selbst es genommen, oder hat Großvater es dir gegeben?«
Ein Anflug von Zorn. »Woher sonst hätte ich es nehmen sollen?«
Ich steuere den Maxima auf das Gras neben einer niedrigen Ziegelmauer. Direkt dahinter liegt das Familiengrab der DeSalles. Wir haben kein Mausoleum, nur feinen Alabama-Marmor hinter einem schmiedeeisernen Zaun, der auf das Jahr 1840 zurückgeht. Von hier aus kann man den Fluss nicht sehen – dieser Ausblick ist reserviert für diejenigen, die auf dem Jewish Hill begraben liegen –, doch die Luft riecht nach Zedernholz und Oliven, und der Schatten gleicht den fehlenden Panoramablick von der Klippe mehr als aus. Hinter diesem Zaun liegt ein großer Teil von fünf Generationen DeSalles. Großvater hätte Daddy wahrscheinlich lieber woanders beigesetzt, doch meine Mutter – so viel muss ich ihr lassen – hat darauf bestanden, dass er hier begraben wurde. Es war vielleicht das einzige Mal in ihrem Leben, dass sie sich gegen ihrenVater aufgelehnt und durchgesetzt hat. Wenn ich versuche, Mom durch das Tor zu schleppen, wird sie sich wehren, also gehe ich einfach selbst hindurch und halte erst an, als ich vor dem schlichten schwarzen Grabstein meines Vaters stehe.
Es dauert nicht lange, bis ich hinter mir das Knarren des Tores höre. Und dann fällt ein Schatten auf dem Boden neben meinen.
»Warum sind wir wirklich hergekommen?«, fragt meine Mutter leise.
Ich taste nach ihrer Hand und ergreife sie. »Mom … irgendwie bin ich inzwischen einunddreißig Jahre alt geworden, ohne dass du und ich über mehr als Belanglosigkeiten miteinander geredet haben. Ich gebe mir dafür genauso die Schuld wie dir. Ich möchte, dass wir in Zukunft besser miteinander zurechtkommen. Aber vielleicht willst du nach dem heutigen Tag nie wieder mit mir reden.«
»Du machst mir Angst, Honey.«
»Ich kann nicht sagen, dass es unberechtigt ist. Ich möchte Daddys Leiche exhumieren.«
Ihr Einatmen könnte genauso gut eine Explosion sein. Ich weiß, dass der Aufruhr in ihr beinahe mehr ist, als sie ertragen kann. Was habe ich nur getan, dass aus meiner Tochter so eine Wahnsinnige geworden ist?, kann ich sie denken hören. Bevor sie schreien oder in Tränen ausbrechen kann, rede ich weiter.
»Ich brauche eine Probe von seiner dna, aber ich möchte auch, dass noch einmal eine Autopsie durchgeführt wird. Und ich möchte Lena aus dem Sarg zurück.«
»Deine zerfetzte alte Stoffpuppe?«
»Ja.«
Sie zieht ihre Hand aus der meinen. »Catherine? Was ist nur los mit dir? Hast du den Verstand verloren?«
»Nein. Ich bin zum ersten Mal im Leben auf dem Weg, einigermaßen normal zu werden. Und dazu brauche ich deine Hilfe, Mom. Ich bitte dich, mir zu helfen.«
Sie wendet den Blick von mir ab und starrt auf den Grabstein. »Aber warum? Was hast du vor?«
»Ich bin nicht sicher, ob du das wissen willst.«
»Wenn du vorhast, deinen Vater auszugraben, dann sollte ich erfahren, was du damit bezwecken willst.«
Ich trete vor, auf Daddys Grab, und drehe mich zu ihr um, bis sie mir in die Augen sieht. »Mom, ich wurde als kleines Mädchen sexuell missbraucht.«
Sie blinzelt mehrmals.
»Ann ist vielleicht ebenfalls missbraucht worden. Ich weiß es nicht. Und ich werde es nicht wissen, bevor ich nicht Daddys Leiche sehe und Lena aus diesem Sarg geholt habe.«
Mom zittert plötzlich von Kopf bis Fuß, als wäre sie auf einem arktischen Gletscher gestrandet. Selbst ihr maßgeschneidertes Leinenkostüm zittert, obwohl in der sommerlichen Hitze kein Lüftchen geht. »Gütiger Gott!«, haucht sie schließlich, und ihre Stimme ist beinahe ein
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