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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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mehr geredet habe – war allein Pearlie imstande, mit mir zu kommunizieren. Das stoische Kindermädchen konnte meine Emotionen aus einem Blick oder dem Schürzen der Lippen bis hin zum Winkel meiner nach unten gerichteten Augenlider ablesen.
    »Ich komme ja schon!«, rufe ich und gehe zur Tür.
    Sobald ich den Knopf herumgedreht habe, stößt Pearlie die Tür auf und steht mit in die Hüften gestemmten Händen vor mir. Sie ist immer noch groß, dünn und zäh wie Knorpel, trotzihrer mehr als siebzig Jahre, mit schokoladenbrauner Haut und eindeutigen Spuren weißer Vorfahren in den Gesichtszügen. In ihren Augen blitzt noch immer Intelligenz und Schlagfertigkeit, und ihr Bellen – dazu gedacht, Fremde einzuschüchtern – ist beträchtlich schlimmer als ihr Beißen. Im Beisein meines Großvaters und meiner Mutter legt Pearlie die stille Würde einer Dienerin aus dem neunzehnten Jahrhundert an den Tag. Sie kann so leise wie ein Geist verschwinden, wenn gewisse Weiße einen Raum betreten, doch in meiner Gegenwart ist sie viel lebhafter, und sie behandelt mich beinahe so, als wäre ich eine Tochter. Sie trägt noch immer ihre gestärkte weiße Uniform, was man heutzutage nicht mehr häufig sieht, und eine glänzende, rotbraune Perücke, um ihr weiß gewordenes Kraushaar zu verbergen.
    Ich habe Pearlie mehr vermisst, als mir bewusst gewesen ist. Ich sehe eine Mischung aus Zorn und Aufregung in ihren Augen, als wüsste sie nicht genau, ob sie mich umarmen oder übers Knie legen solle. Wären nicht Natrieces Angst und die merkwürdige Szene in meinem Zimmer, hätte sie mich ohne Zweifel an sich gedrückt und zerquetscht.
    »Antworte, auf der Stelle!«, verlangt sie von mir. »Du warst seit dem Begräbnis deiner Großmutter nicht mehr zu Hause, und das ist schon ein ganzes Jahr her!«
    »Fünfzehn Monate«, verbessere ich sie und kämpfe gegen eine neuerliche Woge von Emotionen, die ich mir im Augenblick nicht leisten kann. Letzten Juni ist meine Großmutter auf DeSalle Island ertrunken. Ein Teil der Sandbank, auf der sie stand, ist einfach in den Mississippi gerutscht. Es gab keinerlei Vorwarnung. Vier Leute haben es gesehen, und keiner war imstande, ihr zu helfen. Niemand hat sie zurück an die Oberfläche kommen sehen, nachdem die Sandbank weggebrochen war. Catherine Poitiers Kirkland war in ihrer Jugend eine exzellente Schwimmerin – sie hat mir das Schwimmen beigebracht –, doch mit fünfundsiebzig war sie der gewaltigen Strömung des Mississippi offensichtlich nicht mehr gewachsen gewesen.
    »Gütiger Gott.« Pearlie seufzt. »Nun, Catherine … Warum hast du nicht angerufen und Bescheid gesagt, dass du kommst? Ich hätte für dich gekocht!«
    »Es war ein Impuls.«
    »Ist es das bei dir nicht immer?« Sie schenkt mir einen wissenden Blick, dann schiebt sie sich an mir vorbei ins Schlafzimmer. »Was geht hier drin vor? Natriece hat mir erzählt, dass es hier drin einen Geist gibt?«
    Ich sehe das kleine Mädchen draußen auf dem Gang stehen. »Gibt es auch, bestimmt! Sieh nur auf den Teppich am Fuß vom Bett!«
    Pearlie geht zu dem Stativ mit der Kamera, beugt sich vor und untersucht den Boden mit den Adleraugen einer Frau, die Jahrzehnte damit verbracht hat, den kleinsten Schmutzfleck aus »ihrem« Haus zu verbannen.
    »Warum sieht der Teppich so aus?«
    »Blut. Alte Blutflecken, verborgen in den Teppichfasern. Das Blut reagiert mit der Chemikalie, die Natriece versehentlich versprüht hat.«
    »Blut?«, fragt Pearlie skeptisch. »Ich sehe kein Blut. Das da sieht eher aus wie diese Zähne, die du als Kind häufig zu Halloween getragen hast. Vampirzähne, wie Graf Dracula.«
    »Es ist das gleiche Prinzip. Aber hier ist Blut im Teppich, verlass dich drauf.«
    »Kann nur Blut dieses Zeugs leuchten lassen?«
    »Nein«, räume ich ein. »Bestimmte Metalle ebenfalls. Und Haushaltsbleiche. Hast du hier drin Clorox verschüttet? Oder im Wäscheraum? Und hast du es dann hier hereingeschleppt?«
    Pearlie schürzt die Lippen. »Kann ich nicht sagen. Ich weiß es nicht. Könnte schon sein.«
    »Ich habe viele Flecken wie den hier gesehen. Blut entwickelt zusammen mit Luminol ein ganz besonderes Leuchten. Und ich bin zu fünfundneunzig Prozent sicher, dass wir hier Blut vor uns haben.«
    »Blut hin, Blut her, ich sehe kaum noch was.«
    »Es verblasst ziemlich schnell wieder. Deshalb habe ich Bilder davon gemacht.«
    Pearlie hat schon immer die negativen Aspekte einer jeden Situation heruntergespielt. Ich nehme an, dass sie

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