Bisswunden
es nicht. Du kennst ja deinen Großvater.«
Ich will weitere Fragen stellen, doch Natriece muss sie nicht unbedingt hören. Ich werfe einen Seitenblick zu der Kleinen, die versucht, einen der seidenen Schmetterlinge zu erhaschen, die in der Ecke des Zimmers von der Decke hängen. Pearlie versteht die Andeutung.
»Treecy, geh nach draußen und spiel ein bisschen allein, ja?«
Natriece schiebt erneut die Unterlippe vor. »Du hast gesagt, ich krieg ein Eis, wenn ich brav bin.«
Ich muss trotz meiner Ungeduld lachen. »Sie hat mir oft das Gleiche versprochen.«
»Und?«, fragt Natriece todernst. »Hast du es bekommen?«
»Wenn ich brav war, ja.«
»Was nicht allzu häufig vorkam«, sagt Pearlie und macht einen Schritt auf Natriece zu. »Wenn du jetzt nicht nach draußen spielen gehst, bekommst du überhaupt nichts. Und heute Abend gibt es Rosenkohl.«
Natriece verzieht das Gesicht; dann flitzt sie an Pearlie vorbei, wobei sie geschickt der züchtigenden Hand der alten Frau ausweicht. Ich schließe hinter ihr die Tür. Pearlie studiert erneut den Teppich, wo die Blutflecken inzwischen verschwunden sind.
»Wie ist Natriece mit dir verwandt? Enkeltochter?«
Pearlie lacht; ein tiefer, rasselnder Laut. »Urenkel.«
Ich hätte es mir denken können.
»Das ist heutzutage das Problem mit uns Schwarzen in dieser Gegend«, sagt sie. »Diese kleinen Dinger werden mit zwölf zum ersten Mal schwanger.«
Ich traue meinen Ohren nicht. »Das tun sie ja wohl nicht allein, oder? Was ist mit den Männern, die sie schwängern?«
Sie winkt ab. »Ach, Männer. Das ist immer das Gleiche. Sie ändern sich nie, ganz egal, wie viele Shows Oprah über kindliche Mütter bringt. Es ist die Aufgabe von uns Alten, den Kindern beizubringen, wie sie sich verhalten sollen. Aber sie haben sich alle viel zu weit von der Kirche entfernt, diese jungen Leute. M-hm.«
Die beiden letzten Silben sind derart endgültig, dass ich weiß, es ist sinnlos, dagegen zu argumentieren. »Pearlie, ich möchte mit dir über die Nacht reden, als Daddy starb.«
Sie wendet sich nicht ab, sagt aber auch kein Wort. Sie reagiert nicht auf irgendeine Weise, die mir etwas verraten würde, auch wenn ich bemerke, dass ihre schwarzen Augen dunklerwerden. In Pearlies Augen gibt es unterschiedliche Wahrnehmungsebenen, wie bei den meisten Schwarzen ihrer Generation. In Natchez vor 1965 konnte ein Schwarzer eine tödliche Schießerei zwischen zwei Weißen beobachten, ohne etwas zu sehen. Ein derartiges Ereignis war »Sache der Weißen«, und damit basta. Ich hasse den Gedanken, welche Sünden unter dieser altmodischen Sichtweise verborgen bleiben. Statt weiterzubohren, warte ich schweigend ab.
»Du hast mich tausend Mal danach gefragt, Kleines«, sagt sie schließlich und schließt die Augen vor meinem prüfenden Blick.
»Und du bist mir tausend Mal ausgewichen, Pearlie.«
»Ich habe dir alles gesagt, was ich in jener Nacht gesehen habe.«
»Damals war ich ein Kind. Aber jetzt frage ich dich erneut. Heute bin ich einunddreißig Jahre alt, Pearlie, Herrgott noch mal! Erzähl mir, was in dieser Nacht passiert ist, Pearlie. Erzähl mir alles, was du gesehen hast!«
Endlich schlägt sie die Augen auf, und ich blicke in jene dunkelbraunen Iris, die wahrscheinlich mehr vom Leben gesehen haben, als ich jemals sehen werde. »Na schön«, sagt sie müde. »Vielleicht findest du dann endlich Ruhe …«
7
P earlie sitzt auf der Kante meines alten Bettes und starrt an die Wand, während die Erinnerungen in ihr aufsteigen. »Die Wahrheit ist, ich hab nicht viel gesehen. Hätte ich in meinem Haus geschlafen, wär’s wahrscheinlich mehr gewesen, aber ich war im großen Haus und hab mich um deine Großmutter gekümmert.«
Sie unterbricht sich, und für einen Augenblick fürchte ich,sie könnte nicht fortfahren. Dann aber schluckt sie und erzählt weiter.
»Mrs. Kirkland hatte starke Schmerzen. Wie sich herausstellte, war es ihre Gallenblase. Sie musste in der nächsten Nacht operiert werden. Dein Großvater wollte es selbst tun, aber das wollte sie nicht. Wie dem auch sei, ich habe einen Schuss gehört.«
»Um wie viel Uhr?«
»Gegen halb elf. Ein Gewehr, dachte ich. Dieses krachende Geräusch, weißt du? Es hat deine Großmutter geweckt. Ich habe gesagt, dass Dr. Kirkland wahrscheinlich einen Bock geschossen hat, der aus dem Wald aufs Gelände gewandert ist, aber Mrs. Kirkland sagte, ich solle die Polizei rufen.«
»Hast du?«
»Ja.«
»Wie lange hat es gedauert, bis die
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