Bisswunden
Polizei da war?«
»Zehn Minuten. Vielleicht ein wenig länger.«
»Und du bist erst nach unten in den Garten gegangen, nachdem die Polizei da war?«
Pearlie nickt zögernd. »Aber ich habe hier im Haus angerufen, um sicher zu sein, dass mit dir und deiner Mama alles okay war.«
»Wer hat den Anruf entgegengenommen?«
»Dr. Kirkland. Er hat gesagt, es wäre nicht alles okay, aber ich sollte trotzdem bei Mrs. Kirkland bleiben. Ich geriet in Panik und habe ihn versprechen lassen, dass euch nichts passiert wäre. Dann kam ich darauf, dass Mr. Luke irgendetwas zugestoßen sein musste.«
Mr. Luke … Pearlies Anrede für meinen Vater.
»Er wollte eigentlich gegen neun Uhr zur Insel aufbrechen, aber ich hatte ein schlechtes Gefühl. Ich bin zur rückwärtigen Galerie des großen Hauses gegangen und hab nach unten geschaut. Als ich Mr. Luke unter dem Baum entdeckt habe, brach es mir das Herz. Mein Gott, Kind, lass uns nicht weiter darüber reden.«
»Hast du auch mit Mama gesprochen, als du unten angerufen hast?«
»Nein.«
Ich schließe die Augen. Vor mir blitzt blaues Polizeilicht und erhellt das große U, das die Rückseite von Malmaison und die beiden Sklavenquartiere bilden. Der strömende Regen leuchtet in Intervallen saphirblau. Große Männer in Uniformen und Schirmmützen stehen mitten zwischen den Rosen und sprechen mit meinem Großvater wie Soldaten zu einem vorgesetzten Offizier. Ich öffne hastig die Augen, bevor die Erinnerung mich ganz übermannt.
»Ich erinnere mich an die Geschichte, die man mir erzählt hat«, sage ich leise. »Daddy und Großvater hörten beide, wie jemand über das Grundstück schlich. Daddy war hier unten, Großvater war im Haupthaus. Sie trafen sich draußen, redeten ein paar Sekunden, dann gingen sie getrennt los, um nachzusehen. Beide waren bewaffnet, doch Daddy wurde von dem Einbrecher überrascht. Sie kämpften im Dunkeln, und Daddy wurde mit seinem eigenen Gewehr erschossen.«
Pearlie nickt traurig. »Das ist es, was Dr. Kirkland mir erzählt hat.«
»Hat er der Polizei die gleiche Geschichte erzählt?«
»Selbstverständlich, Kind. Es ist das, was passiert ist. Warum fragst du mich das?«
Ohne dass es mir bewusst geworden wäre, habe ich bereits eine Antwort auf ihre Frage formuliert. »Weil ich denke, dass dieser nackte Fußabdruck auf dem Teppich von mir stammt. Und weil ich denke, dass ich ihn in jener Nacht hinterlassen habe.«
Pearlie schüttelt den Kopf. »Das ist Unsinn, Kind. Du bist nie über den Verlust deines Daddys hinweggekommen, das ist alles. Du versuchst seit zwanzig Jahren, einen Sinn dahinter zu erkennen, aber solche Dinge haben einfach keinen Sinn. Es sei denn, du bist Gott, dann verstehst du es. Dann verstehstdu alles. Aber wir Menschen … für dich und mich gibt es hier nichts zu verstehen.«
Ich ignoriere Pearlies simplifizierende Philosophie, ganz gleich, wie treffend sie klingen mag. »Ich hab in jener Nacht versucht, mit Mom zu reden, aber ich musste ihr jeden Wurm aus der Nase ziehen. Sie hat widersprüchliche Geschichten von sich gegeben. Einmal hat sie den Schuss gehört, dann wieder nicht. Einmal hat sie was gesehen, dann wieder nicht. Was hältst du davon?«
Pearlie mustert mich mit offenem Blick. »Du sagst, du wärst inzwischen erwachsen … und ich schätze, das bist du. Jedenfalls alt genug, um alles zu erfahren. Deine Mama hat in jener Nacht überhaupt nichts gesehen, Baby. Sie hatte die Schlaftabletten deines Vaters genommen. Oder seine Schmerztabletten. Was immer er eingenommen hat wegen seiner Kriegsverletzung und der Nerven.«
Nerven … Pearlies Euphemismus für posttraumatisches Stresssyndrom. »Du sagst, es wäre Gewohnheit gewesen?«
»Mädchen, deine Mama hat so gut wie alles geschluckt, was Mr. Luke damals vom Arzt verschrieben bekam. Sie hatte selbst Probleme mit den Nerven. Dein Daddy war bei Dr. Tom Cage in Behandlung, und ich glaube, Dr. Cage hat immer genug für beide verschrieben. Deine Mama ist kaum jemals zu einem Arzt gegangen.«
Ich nehme mir vor herauszufinden, ob Dr. Cage noch am Leben ist. »Also war Mama bewusstlos, als Daddy erschossen wurde?« Ich schließe die Augen und versuche mich an etwas zu erinnern – irgendetwas –, bevor die blauen Lichter zu blitzen anfangen, aber da ist nichts. »Also hast du mich erst zu der Leiche gehen sehen, als du nach unten gekommen bist?«
»Das ist richtig.«
»Woher kam ich?«
Pearlie zögert. »Aus diesem Haus, glaube ich. Oder von der
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