Bisswunden
teilweise auch dafür bezahlt wird. Ich habe sogar gehört, wie sie einen alten Song von John Mercer bei der Arbeit vor sich hin gesungen hat, mit genau dieser Anweisung: You got to ac-cent-tu-ate the positive, e-lim-i-nate the negative …
»Könnte Hirschblut sein«, mutmaßt sie nun. »Oder vielleicht von einem Gürteltier. Dr. Kirkland hat eine Menge Gürteltiere auf dem Gelände geschossen. Sie wühlen den Boden auf, diese lästigen kleinen Mistviecher.«
»Es gibt Untersuchungsmethoden, mit denen ich feststellen kann, ob es sich um Menschenblut handelt oder um Blut von Tieren. Um einen so definierten Stiefelabdruck zu erzeugen, braucht es eine Menge Blut. Hier ist ein Stiefelabdruck, und daneben ein Abdruck von einem nackten Kinderfuß.«
Pearlie starrt in stummem Zweifel auf den Boden.
»Waren andere Kinder hier drin, seit ich weggegangen bin?«, frage ich. Ich war ein Einzelkind, und meine Tante Ann hat trotz dreier Ehen keinen Nachwuchs. »War Natriece oft zum Spielen hier?«
Pearlie schüttelt entschieden den Kopf. »Meine Kinder leben in Los Angeles und Chicago, wie du weißt. Und Natriece war vorher nur zweimal auf Malmaison. Sie war noch nie hier draußen … jedenfalls nicht, dass ich wüsste.« Sie dreht sich um und funkelt das kleine Mädchen an. »Warst du je in diesem Raum, Kind?«
»Nein, Ma’am!«
»Sag die Wahrheit, auf der Stelle! Ich bin keine von diesen weichen Lehrerinnen, die ihr heutzutage an der Schule habt!«
»Aber ich sage die Wahrheit!«
Natriece schiebt schmollend die Unterlippe vor, und ich knie mich hin und studiere das verblassende Abbild desnackten Kinderfußes. Pearlie hat Recht – er ist inzwischen fast verschwunden. »Natriece, kannst du bitte deinen Flipflop ausziehen und den Fuß hierher halten?«
»In das Blut? «
»Nein, nicht in das Blut. Halt deinen Fuß einfach nur über den Teppich.«
Das kleine Mädchen zieht den gelben Flipflop aus und hält mir den schwieligen Fuß hin. Ich nehme ihn in die Hände und platziere ihn dicht über dem verblassenden Fluoreszieren des Abdrucks. Die Größe stimmt nahezu perfekt.
»Wie alt bist du, Natriece?«
»Sechs. Aber ich bin groß für mein Alter.«
»Das denke ich auch.« Ich hatte sie auf acht geschätzt, also besitzt ihr Fuß wahrscheinlich die Größe einer normalen Achtjährigen.
Pearlie beobachtet mich mit besorgter Miene.
»Wo ist Mom, Pearlie?«
»Was glaubst du denn? Sie ist wieder mal nach Biloxi gefahren.«
»Um Tante Ann zu besuchen?«
»Was sonst? Ann zieht den Ärger an wie meine Sheba Kater.«
»Was ist mit Großpapa?«
»Dr. Kirkland ist auf einer Reise. Er wollte allerdings später am Tag wieder zurück sein.«
»Wo ist er hin? Auf die Insel?«
»Gütiger Gott, nein! Er war schon ziemlich lange nicht mehr auf DeSalle Island.«
»Wohin ist er dann?«
Pearlies Gesicht wird verschlossen. »Das darf ich nicht sagen.«
»Nicht einmal mir?«
»Ich weiß nicht.«
»Pearlie …«
Die Amme seufzt und blickt mich mit zur Seite geneigtemKopf an. Sie und ich haben unsere gegenseitigen Geheimnisse über all die Jahre bewahrt. Pearlie hat geschwiegen, wenn ich als Teenager aus dem Haus geschlichen bin, was sie üblicherweise mitbekam, wenn sie in den späten Abendstunden rauchend auf ihrer Veranda saß. Und ich habe geschwiegen, wenn sie gelegentlich Männerbesuch erhielt, der über Nacht in Pearlies Haus schlief. Pearlie wurde niemals offiziell geschieden, doch sie war allein, seit sie dreißig wurde, und wie sie schon damals häufig sagte: Sie mochte vielleicht alt sein, doch sie war nicht tot.
»Du wirst nicht sagen, dass ich es dir verraten habe?«, fragt sie.
»Du weißt, dass ich das niemals tun würde.«
»Dr. Kirkland ist nach Washington gefahren.«
»Washington, Mississippi?« Washington ist eine kleine Stadt ungefähr fünf Meilen östlich von Natchez und war früher einmal die Hauptstadt von Mississippi.
Pearlie schnaubt verächtlich. »Dr. Kirkland würde nicht einmal fünf Minuten seiner Zeit dort draußen verschwenden, es sei denn, er könnte dort ein gutes Geschäft machen.«
»Wohin ist er dann?«
»In Washington, d. c., Mädchen. Er fährt in letzter Zeit ständig dorthin. Ich glaube, er kennt den Präsidenten.«
»Er kennt den Präsidenten, ja. Aber er trifft sich bestimmt nicht dauernd mit ihm. Wer ist es?«
»Ich kann dir nicht sagen, was ich nicht weiß. Ich glaube nicht, dass irgendjemand etwas weiß.«
»Nicht einmal Mom?«
»Sie tut jedenfalls, als wüsste sie
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