Bisswunden
Mobiltelefon läutet in meiner Hosentasche auf der anderen Seite des Pools. Ich gleite auf den Knien nach drüben und werfe einen Blick auf das Display. Es ist meine Mutter.
»Mom?«
»Ich bin jetzt zu Hause, Cat. Wo steckst du?«
»Ich bin schwimmen, bei den Hemmeters.«
»Das Haus gehört nicht mehr den Hemmeters.«
»Ich weiß. Ich habe gerade Dr. Wells kennen gelernt.«
»Tatsächlich? Nun, komm jetzt nach Hause und erzähl mir, was passiert ist.«
Ich lege auf und blicke Michael an. »Ich muss aus dem Wasser.«
Er geht für mich ein Handtuch von der Veranda holen, reicht es mir und wendet sich dann ab. Ich steige rasch aus dem Pool, streife meine Unterwäsche ab und trockne mich ab. Dann ziehe ich meine anderen Sachen an und wringe Büstenhalter und Höschen aus, um beides in der Hand nach Hause zu tragen.
»So, jetzt bin ich wieder anständig angezogen.«
Michael dreht sich um. »Du kannst den Pool benutzen, wann immer du magst.«
»Danke. Aber ich werde nicht lange in der Stadt bleiben.«
»Das ist wirklich schade. Hast du …« Er verstummt, und erneut steigt Röte in seine Wangen.
»Was?«
»Hast du jemanden in New Orleans?«
»Ich weiß es nicht … wirklich nicht.«
Er scheint darüber nachzudenken; dann nickt er offensichtlich zufrieden.
Ich wende mich zum Gehen, doch irgendetwas veranlasstmich, ihn noch einmal anzusehen. »Michael, hattest du schon mal Patienten, die einfach aufgehört haben zu sprechen?«
»Ja. Aber meine Patienten sind allesamt Kinder.«
»Das ist der Grund, weshalb ich gefragt habe. Was bringt ein Kind dazu, mit dem Reden aufzuhören?«
Er kaut auf der Unterlippe. »Manchmal geschieht es aus Scham vor den Eltern. Manchmal aus Wut. Wir nennen es freiwillige Stummheit.«
»Was ist mit Schock?«
»Schock? Sicher. Und Trauma. Aber das ist im strengen Sinne nicht freiwillig.«
»Hast du je erlebt, dass es ein ganzes Jahr anhält?«
Er denkt über meine Frage nach. »Nein. Warum?«
»Nachdem mein Vater erschossen wurde, habe ich ein ganzes Jahr lang kein Wort gesprochen.«
Er mustert mich sekundenlang, ohne ein Wort zu sagen. In seinen Augen liegt ein Ausdruck tiefen Mitgefühls. »Warst du deswegen bei einem Therapeuten?«
»Nicht als Kind, nein.«
»Nicht einmal bei eurem Hausarzt?«
»Nein. Mein Großvater war Arzt. Mom hat erzählt, er hätte immer wieder gesagt, das Problem würde sich von selbst lösen. Tja, ich muss jetzt los. Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann wieder.«
»Ich auch.«
Ich gehe ein paar Schritte rückwärts, schenke Michael ein letztes Lächeln, dann wende ich mich ab und renne in Richtung Wald davon. Als ich unter den Bäumen bin, halte ich an und drehe mich noch einmal um.
Er steht immer noch da und starrt mir hinterher.
10
M eine Mutter wartet in der Küche des ehemaligen Sklavenquartiers. Sie sitzt an dem antiken Frühstückstisch aus Herzpinie und ist makellos gekleidet in einen maßgeschneiderten Hosenanzug, doch sie hat dunkle Ringe unter den Augen, und ihr kastanienbraunes Haar sieht aus, als wäre sie den ganzen Weg von der Golfküste bis hierher mit heruntergelassenem Fenster gefahren. Sie sieht älter aus als beim letzten Mal, als ich sie gesehen habe – bei einem Mittagessen in New Orleans vor vier Monaten. Trotzdem wirkt Gwen Ferry noch immer jünger als zweiundfünfzig Jahre – eher um die vierzig. Ihre ältere Schwester Ann war einst mit dem gleichen Geschenk gesegnet, doch als sie fünfzig wurde, hatte das unruhige Leben ihr die lang anhaltende blühende Jugend gestohlen. Früher einmal waren die beiden DeSalle-Schwestern die Königinnen von Natchez gewesen, die wunderschönen Töchter eines der reichsten Männer in der Stadt. Heute trägt nur noch meine Mutter, was von diesem Banner geblieben ist, und besetzt den gesellschaftlichen Gipfel der Stadt: Präsidentin des Garden Club, ein täuschend harmloser Name für eine Organisation, die früher mehr Macht in den Händen gehalten hat als Bürgermeister und Ratsversammlung zusammen. Sie besitzt außerdem ein Zentrum für Innenarchitektur und Raumausstattung namens Maison DeSalle, das die kleine Clique wohlhabender Familien bedient, die in Natchez geblieben sind.
Sie steht auf und drückt mich an ihre Seite, dann fragt sie: »Was ist passiert, um alles in der Welt? Ich habe dir immer gesagt, du sollst öfter nach Hause kommen, und jetzt tauchst du plötzlich auf, ohne vorher anzurufen?«
»Ich bin auch froh, dich zu sehen, Mom.«
Ihr Gesicht legt sich in
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