Bisswunden
Seite.«
Auf dem Weg nach draußen habe ich das Gefühl, als stammten seine Worte aus den primitivsten Zellen in seinem Gehirn, während die höheren Denkfunktionen vollkommen konzentriert bleiben. Konzentriert auf seine innere Landschaft, zu der ich ohne Zweifel gehöre.
Allein im Korridor atme ich aus, als hätte ich fünfzehn Minuten lang die Luft angehalten. Ich muss nicht Wasser lassen, gehe aber trotzdem den Gang hinunter, weil ich fürchte, dass Malik das fehlende Geräusch von Schritten bemerken würde. Ich komme an einer offenen Tür zu meiner Linken vorbei und sehe einen Mann in einem schwarzen Körperpanzer mit einer kurzläufigen Maschinenpistole, der direkt hinter der Türkauert. Seine Blicke verfolgen mich, als ich an ihm vorbeikomme, doch ansonsten rührt er sich nicht.
Ich öffne die Tür zum Bad und stehe vor John Kaiser, der mich auf der Toilette erwartet. Hastig und lautlos bedeutet er mir, die winzige Toilette zu betreten.
»Müssen Sie wirklich?«, fragt er, als ich die Tür hinter mir geschlossen habe.
»Nein. Ich musste nur raus dort. Er ist hinter seinem Schreibtisch aufgesprungen, und ich bekam es mit der Angst zu tun.«
Der fbi-Agent drückt meinen Oberarm, und seine haselnussbraunen Augen blicken mich beruhigend an. »Glauben Sie, dass Sie in Gefahr sind?«
»Ich weiß es nicht. Eigentlich hat er mich nicht bedroht. Es war nur … unheimlich .«
»Sie halten sich großartig, Cat«, sagt Kaiser. »Glauben Sie, dass Sie noch einmal hineingehen können?«
Ich drehe den Wasserhahn des kleinen Waschbeckens auf und spritze mir kaltes Wasser über den Hals. »Nutzt es denn überhaupt etwas?«
»Machen Sie Witze? Diese Unterhaltung ist unser einziges Fenster in den Kopf dieses Burschen!«
Ich lehne mich gegen die Wand und trockne meinen Hals mit einem Papiertaschentuch ab. »Okay.«
»Fühlen Sie sich sicher genug, um ihn ein wenig zu provozieren?«
»Meine Güte, wie soll ich das denn anstellen?«
Kaiser schenkt mir ein Lächeln, mit dem er mir verrät, dass er mich besser kennt, als ich gedacht hätte. »Ich glaube nicht, dass Sie in dieser Hinsicht Vorschläge von uns brauchen. Oder?«
»Ich schätze nicht, nein.«
»Wenn Sie sich bedroht fühlen, zögern Sie nicht und geben Sie das Zeichen. Wir haben ihn binnen fünf Sekunden mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden.«
»Tot oder lebendig?«
»Das ist allein seine Entscheidung.« Kaisers Augen glitzern hart.
»Tatsächlich?«
Der fbi-Agent greift hinter sich und betätigt die Toilettenspülung. »Sie sind genau da, wo Sie gerne sind, Cat. An der Kante. Gehen Sie rein und nageln Sie den Kerl fest.«
17
N athan Malik steht beim Sideboard und zündet einen kleinen Räucherkegel auf einem Halter vor dem Buddha an. Ein dünner Rauchfaden steigt in die Höhe, und das Aroma von Sandelholz breitet sich aus. Als Malik zu seinem Schreibtisch zurückkehrt und dahinter Platz nimmt, ist die bedrohliche Aura, die ihn umgeben hat, wieder verschwunden. Mit seinem rasierten Schädel, dem schlanken Leib und der schwarzen Kleidung wirkt er beinahe wie der Choreograph irgendeiner Broadway-Show. Das ist eine Illusion, rufe ich mir ins Gedächtnis. Dieser Mann war im Krieg und hat Menschen getötet, wenn nicht sogar draußen in der Stadt außerhalb seines Büros.
»Halten Sie es für möglich, Catherine, dass man traumatische Erinnerungen verlieren kann?«
Vor meinem geistigen Auge sehe ich die blauen Blitzlichter der Streifenwagen in der Nacht, in der mein Vater starb, und ich spüre die grauenvolle Schwärze der Stunden davor. »Ich weise den Gedanken nicht von der Hand. Ich vermute allerdings, dass ich ein wenig misstrauisch bin.«
»Das geht den meisten Menschen so. Das Wort Repression ist mit allen möglichen Freud’schen Obertönen beladen. Wir sollten es gänzlich fallen lassen. Erinnerungen gehen durch einen komplizierten neurologischen Vorgang verloren, den man Dissoziation nennt – ein wohl bekannter Abwehrmechanismusder menschlichen Psyche. Ich bin sicher, Sie erinnern sich aus Ihrer Zeit an der Universität daran.«
»Frischen Sie mein Gedächtnis auf.«
»Tagträumen ist ein verbreitetes Beispiel für Dissoziation. Sie sitzen in einem Unterrichtsraum, doch Ihre Gedanken sind tausend Meilen entfernt. Ihr Körper ist an einem Ort, Ihr Geist an einem anderen. Wenn Sie in diesem Moment aufgerufen werden, ist es genauso, als hätten Sie geschlafen. Wir alle haben diese Erfahrung gemacht.«
»Sicher.«
»Oder was halten Sie
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