Bisswunden
verloren, wie gesagt. Wenn eine erwachsene Frau sich in einer Situation wiederfindet ähnlich der, in welcher der Missbrauch stattgefunden hat – sagen wir, beim normalen Sex mit ihrem Ehemann –, und er probiert etwas Neues aus, beispielsweise Oral- oder Analverkehr, dann kann es sein, dass sie plötzlich Panik, Schmerz, Herzrhythmusstörungen und dergleichen mehr erfährt. Ein spezieller Geruch kann die gleichen Reaktionen auslösen. Ein Haargel, das ihr Peiniger benutzt hat, beispielsweise. Badezimmer vermögen es zu bewirken. Der sensorische Teil des Gehirns erinnert sich an das Trauma, doch der bewusste Verstand tut es nicht.«
»Und wie bringen Sie diese Erinnerungen ins Bewusstsein? Gesprächstherapie? Hypnose?«
»Hypnose ist inzwischen großenteils in Verruf geraten als ein Werkzeug zur Rückgewinnung verlorener Erinnerungen. Unerfahrene Ärzte haben damit zu viele falscheErinnerungen eingepflanzt. Was eine Schande ist, denn meiner Meinung nach wird auf diese Weise das Kind mit dem Bad ausgeschüttet.«
»Setzen Sie Drogen ein?«
Malik wirkt ungeduldig. »Ich setze ein, was immer mir in einer gegebenen Situation bei einem gegebenen Patienten am sinnvollsten erscheint. Drogen, Gesprächstherapie, emdr, Hypnose – ich könnte Sie jetzt stundenlang mit klinischen Fachausdrücken bewerfen, die genauso präzise wie sinnlos sind. Ich finde es nützlich, Symbolismus zu verwenden, wenn ich über meine Arbeit spreche. Mythologie größtenteils. Die Griechen wussten einiges über Psychologie. Insbesondere über den Inzest.«
Maliks Blick wandert erneut zu meinen Beinen. Ich ziehe den Rock über die Knie. »Ich bin ganz Ohr.«
»Sind Sie mit dem Konzept der Unterwelt vertraut? Dem Styx? Charon, dem Fährmann der Toten? Kerberos, dem Höllenhund?«
»Ein wenig, ja.«
»Wenn Sie meine Arbeit verstehen wollen, dann betrachten Sie sie auf diese Weise. Opfer von chronischem sexuellen Missbrauch sind nicht die lebenden Verwundeten – sie sind die lebenden Toten. Die bereits beschriebenen wiederholten Traumata und Dissoziationen haben ihren Geist effektiv getötet. Einige Kliniker beschreiben diese Pathologie als ›Seelenmord‹. Ich betrachte die Seelen dieser Patienten als in der Unterwelt gefangen. Nennen Sie es Unterbewusstsein oder wie auch immer. Die Kinder, die diese Menschen einst waren, wurden von der Welt des Lichts ausgesperrt und wandern im ewigen Schatten. Und obwohl ihre Seelen den Fluss überquert und das Land der Toten betreten haben, sind ihre Körper zurückgeblieben. Hier bei uns.«
Der Einband von Maliks Buch kommt mir in den Sinn, der alte Mann auf dem Boot und die junge Frau, die darauf wartet, an Bord gehen zu können. »Welchen Fluss überqueren sie?«,frage ich. »Den Styx? Oder den Lethe, wie der Titel Ihres Buches andeutet?«
Malik lächelt überrascht. »Die Unterwelt wurde von fünf Flüssen gesäumt. Der Styx war lediglich derjenige, bei dem die Götter ihre unverbrüchlichen Eide schworen. Meine Patienten haben den Lethe überquert, den Fluss des Vergessens. Und meine Aufgabe ist es, das zu tun, was kein Lebender darf: in das Land der Toten zu reisen und die Seelen dieser armen Kinder zurückzubringen.«
»Sehen Sie sich auf diese Weise? Ein klassischer Held, der die Launen des Schicksals rückgängig macht?«
»Nein. Doch es ist ein heldenhaftes Unterfangen, glauben Sie mir. In den Mythen hat allein Orpheus es beinahe geschafft, doch selbst er hat am Ende versagt. Ich selbst sehe mich als Charon, den Fährmann. Ich kenne die Unterwelt so wie die meisten Menschen die reale Welt da draußen, und ich führe die Reisenden zwischen beiden Welten hin und her.«
Ich denke eine Weile über die Metapher nach. »Interessant, dass Sie sich mit Charon identifizieren«, sage ich schließlich. »Ich erinnere mich nur daran, dass er Geld dafür genommen hat, die Toten über den Fluss zu bringen.«
»Sind Sie jetzt mit Beleidigungen an der Reihe?« Malik lächelt abschätzig. »Sie haben Recht, Charon wurde bezahlt. Mit einer Münze im Mund. Doch sie interpretieren die Metapher falsch. Mein Honorar ist nicht der Preis für die Reise des Patienten in die Unterwelt. Diesen Preis haben meine Patienten in der Regel längst bezahlt, bevor sie zu mir kommen.«
»An wen?«
»An die Dunkelheit. Sie haben den Preis in Schmerz und Tränen bezahlt.«
Ich weiche Maliks herausforderndem Blick aus und starre den Steinbuddha an. »Die Therapie unterdrückter Erinnerungen ist ziemlich kontrovers.
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