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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Maliks Leidenschaft ein wenig abklingt. »Ich denke, dass die unmittelbare Gefahr für das Leben unschuldiger Menschen stärker wiegt als das Recht Ihrer Patienten auf Privatsphäre«, sage ich schließlich.
    »Das sagt sich so leicht dahin, Catherine. Was, wenn ich Ihnen sage, dass die Mehrheit meiner Patienten Überlebende des Holocaust sind? Überlebende von Konzentrationslagern, die niemals befreit wurden, und dass einige von ihnen noch immer mit ihren Nazi-Schergen zusammen leben?«
    »Das ist keine faire Analogie. Es stimmt einfach nicht.«
    »Sie irren sich.« Maliks Augen blitzen. »Kinder, die über einen längeren Zeitraum hinweg unter wiederholtem sexuellen Missbrauch leiden, leben in Konzentrationslagern. Sie sind der Willkür von Despoten ausgeliefert, von denen ihr schieres Überleben abhängt. Sie erleiden tagtäglich Folter und Qualen. Ihre eigenen Geschwister – oft sogar die eigene Mutter – verraten sie in ihrem Kampf ums Überleben. Jede Identität dieser Kinder wird systematisch zerstört, und Hoffnung ist für sie nicht einmal mehr eine Erinnerung. Vertun Sie sich nicht, Doktor, rings um uns her ist ein Holocaust im Gange. Doch die meisten von uns ziehen es vor, die Augen davor zu verschließen.«
    Nathan Maliks fast übernatürliche Ruhe ist einer tiefen, dauerhaften Wut gewichen. Er ist vollkommen anders als diePsychiater, die ich als Patientin besucht habe. In gewisser Weise habe ich diese Art von Leidenschaft bei meinen Therapeuten immer gesucht. Doch in Wirklichkeit ist es nicht ihre richtige Rolle. Diese Art von Leidenschaft bei einem Therapeuten ist gefährlich.
    Mit neutraler Stimme sage ich: »Wenn ich mich richtig an die Vorlesungen der Med School erinnere, sollten Therapeuten unter allen Umständen neutral bleiben. Sie klingen mehr nach einem Anwalt der Patienten als nach einem leidenschaftslosen Kliniker.«
    »Soll man im Angesicht des Holocaust leidenschaftslos bleiben? Nur weil man zufällig Arzt ist? Wissen Sie, wie viele amerikanische Frauen als Kind sexuell missbraucht wurden? Jede dritte. Jede dritte! Das sind Millionen Frauen! Frauen in Ihrer Familie, Catherine. Bei Männern ist es jeder vierte bis siebte.«
    Ich zwinge mich, weiter neutral zu klingen. »Sagt wer?«
    »Das sind Fakten, keine Propaganda von irgendeiner Opfervereinigung. Die durchschnittliche Dauer des Missbrauchs beträgt vier Jahre. Die Hälfte aller missbrauchten Kinder ist ein Opfer gleich mehrerer Täter. Möchten Sie noch mehr erfahren, Doktor? «
    »Ich bin ein wenig verwirrt«, gestehe ich leise. »Behandeln Sie Kinder oder Erwachsene?«
    Mit einer explosiven Bewegung erhebt Malik sich hinter seinem Schreibtisch, als könnte der Sessel ihn nicht mehr bändigen. Er ist knapp eins achtzig groß, doch er strahlt eine Kraft und eine Energie aus, die ihren Ursprung in seiner übernatürlichen Ruhe zu finden scheint. Er projiziert eine Zentriertheit, die ich bisher nur bei Menschen gesehen habe, die ihr ganzes Leben den Kampfkünsten widmen.
    »Sie sprechen in einem chronologischen Konsens«, sagt er mit einer Stimme, die so leise ist, dass ich ihn fast nicht verstehe. »Ich kann mir solche Unterscheidungen nicht leisten. Die emotionale Entwicklung eines Kindes bricht typischerweise in dem Stadium ab, in dem es sich befunden hat, als derMissbrauch begann. Manchmal weiß ich selbst nicht, ob ich es mit einem Erwachsenen oder einem Kind zu tun habe, bis der Patient anfängt zu reden.«
    »Also … also sprechen wir jetzt über unterdrückte Erinnerungen, richtig?«
    Malik hat sich nicht von der Stelle bewegt, doch plötzlich scheint er viel näher als zuvor. Und das Sondereinsatzkommando scheint viel weiter weg als noch vor einem Augenblick. Meine Blicke wandern zu dem Samurai-Schwert an der Wand zu meiner Linken. Sein Platz gegenüber dem Steinbuddha an der rechten Wand erzeugt einen bestürzenden Eindruck von Extremen: Krieg und Frieden, Gelassenheit und Gewalt.
    »Sie wissen sehr genau, worüber ich spreche, Doktor «, sagt Malik.
    Zum ersten Mal, seit ich seine Praxis betreten habe, spüre ich Angst. Mein Haaransatz kitzelt, und meine Handflächen sind feucht. Der Mann vor mir ist nicht mehr der, den ich an der Medical School gekannt habe. Physisch, ja, doch emotional hat er sich zu etwas anderem entwickelt, und seine Agenda bleibt mir ein Rätsel.
    »Ich muss auf die Toilette«, sage ich lahm.
    »Den Gang hinunter«, antwortet Malik mit unverändertem Gesichtsausdruck. »Die letzte Tür auf der rechten

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