Bisswunden
davon, wenn Sie mit Ihrem Wagen unterwegs sind und sich auf irgendetwas im Innenraum konzentrieren? Den CD-Player? Ein Kind? Das Programmieren Ihres Mobiltelefons? Ihr Körper und Ihr Gehirn sind mit dem Steuern des Wagens beschäftigt, während Ihr Bewusstsein vollkommen in etwas anderem aufgeht. Ich für meinen Teil habe große Entfernungen im Wagen zurückgelegt, ohne auch nur ein einziges Mal bewusst auf die Straße vor mir zu sehen.«
»Das geht mir nicht anders. Aber ich habe keine Amnesie bezüglich der Dinge, die ich währenddessen getan habe.«
»Dann haben Sie sich nicht in einer traumatischen Situation befunden.« Malik schenkt mir ein väterliches Lächeln. »Wenn Dissoziation als Mechanismus zur Bewältigung eines Traumas eingesetzt wird, sind die Folgen sehr viel tiefgreifender. Wenn Menschen unter so großen Stress gesetzt werden, dass die einzig möglichen Reaktionen Kampf oder Flucht sind, müssen sie das eine oder das andere tun. Und wenn sie in einer Lage sind, in der weder das eine noch das andere möglich ist, wird das Gehirn – beziehungsweise das Bewusstsein – den Versuch unternehmen, alleine zu flüchten. Der Körper erleidet das Trauma, doch das Bewusstsein ist effektiv nicht anwesend. Es mag sehr wohl beobachten, wie das traumatische Ereignis stattfindet, doch es wird nichts davon verarbeiten. Jedenfalls nicht auf konventionelle Weise.« Malik bewegt außer den Lippen und dem Unterkiefer keinen einzigenMuskel, während er spricht. »Finden Sie es schwierig, diese Vorstellung zu akzeptieren?«
»Sie ist einleuchtend. Theoretisch zumindest.«
»Dann wenden wir uns jetzt den praktischen Beispielen zu. Stellen Sie sich ein dreijähriges Mädchen vor, das wiederholt sexuell missbraucht wird. Mehrere Nächte in der Woche – es weiß nie vorher, wann es geschehen wird – schlüpft ein Mann in ihr Zimmer, der zehnmal so schwer und so stark ist wie sie, und stellt Dinge mit ihrem Körper an. Zuerst mag sie es genießen, sich geschmeichelt fühlen. Sie empfindet Vergnügen und nimmt teil. Doch schließlich wird ihr die heimliche Natur dieser Aktivitäten bewusst, und sie bittet ihn aufzuhören. Doch er hört nicht auf. Er stößt Drohungen aus. Droht mit Gewalt, mit Verlassen, mit Mord. In ihrem Bewusstsein staut sich eine riesige Menge negativer Antizipationen. Sie erträgt unvorstellbare Angst. In welcher Nacht wird er das nächste Mal kommen? Kommt er, wenn sie sich vom Schlaf übermannen lässt? Doch ganz gleich, was sie tut, um es zu verhindern, er kommt trotzdem. Dieser große, Furcht einflößende Mann – üblicherweise ein Mann, der sie eigentlich lieben und beschützen müsste – steigt auf sie und beginnt, ihr Schmerzen zuzufügen. Sie ist inzwischen vielleicht vier oder fünf, doch sie ist längst nicht stark genug, um sich gegen ihn zu wehren oder vor ihm wegzulaufen. Was geschieht also? Genau wie in einem Kampf, wie in einer Schlacht versucht das Gehirn, so gut wie möglich mit dem Unerträglichen fertig zu werden. Massive Verteidigungsmechanismen werden in Gang gesetzt. Und Dissoziation ist der mächtigste Verteidigungsmechanismus, der dem Menschen zur Verfügung steht. Das Bewusstsein des Mädchens verlässt den Ort des Verbrechens, und nur sein Leib erträgt die Vergewaltigung. Und im extremsten Fall entwickelt das Mädchen dis.«
»dis?«
»Dissoziatives Identitätssyndrom. Das, was wir früher multiple Persönlichkeitsstörung genannt haben. Das Bewusstseinwird so geschickt darin, sich von der Realität zu lösen, dass eine eigenständige Psyche entsteht. Sexueller Missbrauch über einen verlängerten Zeitraum ist bisher die einzige bekannte Ursache für die Entwicklung einer multiplen Persönlichkeitsstörung.«
»Diese traumatischen Erinnerungen«, sage ich in dem Versuch, zum Hauptthema unserer Unterhaltung zurückzukehren. »Sie bleiben erhalten? Auch wenn die betroffene Person sich ihrer Existenz nicht bewusst ist? Sie bleiben so weit erhalten, dass man zu einem späteren Zeitpunkt darauf zugreifen kann? Jahre später?«
Malik nickt. »Das Ausmaß der Erinnerung variiert selbstverständlich, doch nicht der Wahrheitsgehalt. Die tatsächliche Erinnerung lässt sich nicht löschen. Sie sitzt lediglich in einem anderen Teil des Gehirns. Diese Vorstellung ist die Grundlage der gesamten Debatte über unterdrückte Erinnerungen.«
»Schön, und wie helfen Sie nun Ihren Patienten dabei, diese verlorenen Erinnerungen zurückzugewinnen?«
»Sie sind nicht wirklich
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