Bist du mein Kind? (German Edition)
aus den Augen lassen. Als könnte ich sie damit beschützen. Aber wir wissen ja auch nicht, was noch alles passiert.“
Ich sehe und höre meine Kinder. Sie schlafen tief und fest. Hoffentlich träumt Leon nicht schlecht.
„Geh nur wieder zu den Polizisten. Ich muss mich mal umziehen“.
Wolfgang sieht mich fragend an. Er soll nur gehen. Ich kann ihn nicht ansehen und ich möchte nicht, dass er das bemerkt. Leise verlässt er das Zimmer.
Ich ziehe die Klamotten aus. Seltsam, als ich sie heute Morgen angezogen habe, war unsere Welt noch in Ordnung. Und jetzt liegt sie in Scherben. Und trotzdem trage ich noch die gleichen Sachen. Irgendwie kommt mir das falsch vor. Also reiß‘ ich mir alles runter. Auch die Unterwäsche. Ich schlüpfe in neue Unterwäsche und ziehe eine bequeme Jeans und einen Pulli an. Vielleicht muss ich ja heute Nacht noch irgendwo hin und mein Kind holen. Da will ich keine Zeit mit Anziehen verschwenden. Also bleibt der Schlafanzug im Schrank.
Ich gehe zu Timos Bett. Er schläft und lächelt. Ich nehme ihn auf den Arm und gehe mit ihm zum großen Bett. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, mich mit ihm auf das Bett zu legen. Also kuschele ich mich ganz nah an Leon und halte Timo zwischen uns im Arm. Und dann bricht der Wall. Die Tränen laufen. Ich wehre mich jetzt auch nicht dagegen. Ich will mein Elend nur heraus heulen. Und genau das mache ich. Ich heule.
Lange. Und noch länger. Bis mir die Augen zufallen und ich wieder einschlafe.
Ich habe schlimme Träume, aus denen ich immer kurz erwache. Aber ich schaffe es nicht, ganz aufzuwachen und schlafe immer wieder ein.
2001 Mai Tag 5 in Frankreich
Irgendwann ist es hell im Schlafzimmer. Ich schrecke hoch. Die Kinder schlafen noch. Mein Kopfkissen ist ganz nass. Wieso? Ach ja, Maxi ist weg und ich habe geheult. Und dann durchzuckt es mich.
Ich springe aus dem Bett und bin mit einem Satz an der Tür. Während ich diese aufreiße, schrei ich schon:
„Haben die angerufen? Was ist mit Maxi?“
Zwei übernächtigte Polizisten sehen mich an. Valentine sitzt und macht sich Notizen. Schon wieder oder immer noch? Wolfgang schafft es nicht, mich anzusehen.
Simon ist mutig.
„Es tut mir so leid, aber es hat sich niemand gemeldet.“
Ich, ich bin das schuld. Hätte ich nicht geschlafen. Wieso konnte ich schlafen, obwohl mein Kind in höchster Gefahr schwebt? Wäre ich wach geblieben, hätte ich den Anruf nicht versäumt.
„Funktionieren diese ganzen Scheiß-Geräte? Oder habt ihr etwas falsch angeschlossen? Oder waren die Telefone auf stumm gestellt? Bitte überprüft es, bitte!“
Verzweiflung kriecht in mir hoch. Eine eiskalte Hand greift nach meinem Herz und drückt es zusammen. Ich spüre echte Schmerzen in meiner Brust. Tief atmen. Geht nicht. Doch, tief atmen. Es geht nicht!
Um diesen Zustand zu verbergen, schlurfe ich in die Küche und setze Kaffee auf. Diese gewohnten Handbewegungen beruhigen mich etwas.
Als der Kaffee gurgelnd in die Glaskanne läuft, klopft es an der Tür. Ich zucke zusammen und sprinte los. Vor Victor drehe ich den Schlüssel und reiße die Tür auf.
Jean. Mit einer Tüte Croissants.
Und sieht ganz frisch aus. Und erholt. Als hätte er nicht die halbe Nacht bei uns verbracht. „Marie bringt Butter und Marmelade und frische Milch“, sagt er und schiebt sich an mir vorbei. Kurz drückt er meine Hand. Ich lasse die Tür auf.
Draußen sieht es wunderschön aus. Wie gestern. Blauer Himmel, die Sonne steht zwar noch tief am Himmel, aber es wird wieder ein toller Tag. Warum ist der Himmel nicht grau? Warum herrscht kein Nebel? Dann würde es zu meiner Stimmung passen. Es geht doch nicht, dass es da draußen aussieht wie im Paradies und wir alle schmoren in der Hölle. Am allermeisten mein kleiner Sohn. Wie soll er das aushalten?
Jean sitzt inzwischen mit Victor und Simon zusammen und sie besprechen etwas. Nachdem ich die Tür mit Nachdruck geschlossen habe, gehe ich in die Küche.
Die drei Männer sprechen leiser. Als ob ich bei deren Sprechtempo überhaupt irgendetwas verstehe.
Der Stuhl gegenüber von Simon ist frei. Ich setze mich und sehe die drei an.
Sie schweigen und betrachten die Tischplatte, als gäbe es dort die Lösung für diese entsetzliche Misere.
„Was gibt es?“ frage ich in die Runde.
Und wage nicht, zu atmen. Sechs Augen sehen mich an. Keiner sagt etwas. Ich halte das nicht aus.
„WAS?“ frage ich sehr laut.
Jean sieht mich an. „Wir haben alles im Umkreis von 50 Kilometern
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